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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Selberlebensbeschreibung das wütende Ressentiment gegen den Westen nennt, nahm er als weiteren Beleg für den Irrweg, den die Revolution genommen hatte. Zum Glück setzten sich zahlreiche Isfahani, die selbst oder deren Töchter das Christliche Gymnasium besucht hatten, für Mrs. Isaak und Mrs. Eden ein und wurden die Anschuldigungen rasch fallengelassen. Sie blieben bis zu ihrem Tod in Isfahan und ruhen heute auf dem armenischen Friedhof. Mögen ihre Seelen froh sein.
    Sowenig die Großeltern sexuell aufgeklärt worden waren, so wenig brachten sie es über sich, ihre Kinder aufzuklären. Großvater wird als Mann nicht geahnt haben, welche Ängste vor allem seine Töchter deswegen ausstehen mußten. Bei ihrer ersten Monatsblutung geriet meine Mutter in solche Panik, daß sie sich heulend und zitternd einsperrte. Ohne zu wissen, was Jungfräulichkeit genau bedeutete, war sie überzeugt, sie verloren und damit Schande über sich und die Familie gebracht zu haben. Zwei Tage lang trat sie nur morgens, wenn sie zur Schule ging, und abends zum Essen vor die Tür ihres Zimmers, schwieg auf alle Fragen, wurde immer wieder für Minuten von Schüttelfrost gepackt und überlegte allen Ernstes, wie sie sich am leichtesten umbringen könnte. Schließlich verwickelte meine Großtante sie doch in ein Gespräch, Großmutters Schwester, die nur ein paar Jahre älter als meine Mutter ist und als letzte ihrer Generation noch täglich ihre Wasserpfeife raucht. Soviel Überwindung es sie auch kostete, erzählte meine Mutter ihr schließlich von dem Blut und ihrer Befürchtung. Die Großtante benötigte nicht viele Worte, um sie zu beruhigen. Was Jungfräulichkeit beziehungsweise deren Verlust ungefähr bedeutet – genau kannte die Großtante sich auch nicht aus –, erfuhr meine Mutter bei der Gelegenheit ebenfalls und setzte sich danach auf die Lauer, um zu beobachten, wie Großmutter an manchen Abenden in Großvaters Zimmer oder im Sommer in seinem Mückenzelt verschwand. Nicht einmal ihren Schwestern traute sie sich zu berichten, was sie gesehen und schon gar nicht, was sie gehört hatte! Als sie selbst Mutter wurde, wollte sie es besser machen und überredete meinen Vater, sich gemeinsam einen der Aufklärungsfilme anzuschauen, die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Deutschland gezeigt wurden. Den Eltern stockte der Atem, sie rieben sich die Augen, wurden rot vor Scham, verließen mit gesenkten Köpfen das Kino, damit niemand sie erkannte, und rangen sich nach einigen Tagen dennoch zu dem Entschluß durch, der nach ihren Maßstäben revolutionär war, meine beiden älteren Brüder, die vierzehn, fünfzehn Jahre alt waren, den Film zu zeigen. Es schien dies zwar eine radikale, aber wissenschaftlich abgesicherte und vor allem rasch zu treffende Maßnahme, sich der Bürde der Aufklärung zu entledigen, die sie aufgrund ihrer eigenen Erziehung so schwer empfanden. Als die Eltern wieder mit hochrotem Kopf und betretenem Schweigen vor dem Kino standen, entdeckten die Brüder den Aushang. – Was, diesen Kinderkram sollen wir sehen? brummten sie enttäuscht: Das haben wir in der Schule doch schon längst durchgenommen.
    Gab es noch Ehrenmorde? fragt der Sohn unterm Headset die Mutter. – Wahrscheinlich auf den Dörfern, antwortet sie, aber nicht in unserer Bekanntschaft, nicht in der Stadt. – Haben Sie davon gehört? – Nein, nie. – Und Selbstmorde? – Die gab es natürlich schon, aber niemand sprach über die Gründe. – Und wie hätte Großvater reagiert, wenn er Sie mit einem Jungen erwischt hätte? Die Mutter muß überlegen. Wie real die Frage war, bezeugen die gar nicht wenigen Frauen der weiteren Verwandtschaft, die in ihrer Jugend einen Skandal verursachten. Die Übergriffe Mohammad Hassans hat die Mutter zwar doch nicht in die Selberlebensbeschreibung aufgenommen, aber sie hat dem Sohn davon erzählt, und die entfernten Tanten wurden keineswegs freiwillig oder zur Freude ihrer Eltern die Frau eines Nachbarjungen, eines Dienstboten oder die Zweitfrau eines deutlich älteren Herrn. – Mein Vater hätte mich nicht verstoßen, ist die Mutter überzeugt, die an Die Marquise von O … denken muß, was für sich schon etwas über ihren, nach den Maßstäben des Sohns unglaublichen Bildungsroman aussagt, doch die

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