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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Kollegen bemerkt hat, sondern fragt sich im stillen der jüngere Kollege selbst: Alles andere, das Alltägliche, die Reisen, die Lektüren und Betrachtungen mögen vor einem sehr barmherzigen Gericht vielleicht noch bestehen, aber wieso sind gerade die eigentlichen Kapitel seines Totenbuchs, sind ausgerechnet die Gedächtnisse so fad geraten, das Gedächtnis für Mahmud Darwisch oder für Veronika Bayer, um vom armen Georg Elwert gar nicht mehr zu sprechen, auch und gerade das Gedächtnis für Nasrin Azarba: Wieviel mehr, wieviel Bedeutenderes, Tieferes wäre zu sagen gewesen. Kann sich der jüngere Kollege wirklich damit herausreden, daß das Ungenügen, das Stammelnde, die Unfähigkeit, etwas auf den Punkt zu bringen, ein »objektives Moment« der Trauer sei, wie er sich vor ein paar Minuten verteidigte? Mag sein, daß sich die Bilder und konkreten Emotionen unmittelbar nach dem Tod, in den ersten Tagen verflüchtigen und man gar nicht mehr genau weiß oder jedenfalls auf die Schnelle, in der Benommenheit nicht zu sagen weiß, was einem auf Erden jetzt fehlt – aber seine Aufgabe und Rechtfertigung wäre es doch, Widerstand zu leisten gegen die Verflüchtigung, von Mahmud Darwisch, Veronika Bayer oder Georg Elwert, auch und gerade von Nasrin Azarba mehr zu sagen, als daß der eine ein guter Dichter, die andere eine gute Schauspielerin war, der eine ein guter Mensch, die andere eine gute Köchin. Bei allen Vorbehalten scheint der berühmte Schriftsteller dem Roman durchaus Wert zuzubilligen, den ich schreibe, oder wie anders ist es zu erklären, daß er dem jüngeren Kollegen fortwährend gratuliert, alles gut, alles möglich, und in seiner Erregung die denkbar größten Namen einwirft, jedesmal wenn oder sogar während er den jüngeren Kollegen zusammenstaucht, daß der schon Sternchen zu sehen meint, weil die Schockstarre jetzt nachläßt, oder sind die großen Namen nur dem Wein geschuldet, der Freundschaft, dem Dank für die gelungene Laudatio, die der jüngere Kollege ein Jahr zuvor gehalten? – Sie haben nicht recht, sagte sich der Romanschreiber ein ums andere Mal, während er mit offenem Mund zuhörte, Sie haben nicht recht, Sie haben nicht recht – Sie haben nur in einem einzigen Punkt recht, aber der reicht, um mein Hauptwerk in den Müll zu werfen: Die Sprache stimmt nicht. Es gibt nichts Abfälligeres über einen Text zu sagen, der Literatur sein müßte. Noch während der berühmte Schriftsteller durch den Park zur Wohnung des Ehrengastes hinüber geht, nimmt der jüngere Kollege wieder in der Wäschekammer Platz, um den ersten der bislang 789 Absätze in die dritte Person zu setzen. Er möchte einmal ausprobieren, was schon durch diese banalste Verfremdung in Gang gesetzt wird. Von einer auf die andere Lektüre ist er gezwungen, Satz für Satz zu korrigieren, zu streichen, einzufügen und abzukürzen oder auf Grammatik, Rhythmus, Verständlichkeit und Rechtschreibung zu achten, um die Regeln, wenn schon, bewußt zu mißachten. Von einer auf die andere Lektüre hat er die falsche Frage: Ist es gut? Von einer auf die andere Lektüre könnte es auch die Frau lesen, die Nachbarin, alle Nummern von eins bis neun. Von einer auf die andere Lektüre stören die Namen. Allein, wenn er nicht mehr ich ist, sind auch die Toten andere. Die Urschrift, das weiß er jetzt, will er dennoch nie veröffentlichen, und sollte er sterben, bevor er an den Anfang zurückkehrt, wünscht sich der jüngere Kollege am 17. Oktober 2008 um 23:57 Uhr von dem berühmten Schriftsteller, den die Bitte auf welchen Wegen auch immer erreichen würde, nicht nur einige Absätze, sondern alle Seiten nach seinem Gutdünken umzuschreiben, zu kürzen und zu ergänzen. Er soll mit der Sprache tun, was immer er für richtig hält, nur die Photos belassen oder allenfalls gegen bessere austauschen und auf jede Artistik verzichten. Das Dahinsagen muß bewahrt, lediglich zum Gestus werden. Sie haben selbst erklärt, es sei kostbar, erinnert der jüngere Kollege den berühmten Schriftsteller, also kann es das nicht nur für mich sein. Und bedenken Sie, daß Ihnen das Buch nur gelingen kann, wenn es zu Ihrem eigenen wird. Das bedeutet, daß Sie zu einem Autor werden, der auf dem Umschlag genannt wird. Wenn der jüngere Kollege je an den Anfang zurückkehrt, wird er

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