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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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den wenigen Großindustriellen, die nach der Revolution von 1979 in Iran blieben. Er wollte für sein Land arbeiten und in seinem Land sterben. Als die Radikalen die Oberhand gewannen, wurde er dennoch verhaftet, ohne auch nur die Anklage zu erfahren. Zwar wurde Reza Rastegar nach einem Monat wieder auf freien Fuß gesetzt, doch saß der Schock so tief, wehrlos der Willkür dieser unrasierten, ungepflegten, ungebildeten Fanatiker ausgesetzt zu sein, daß er bereits am Tag nach seiner Freilassung eine Schlepperbande engagierte, die ihn auf abenteuerliche Weise nach Europa brachte. Im Januar 2000 starb er in London, wie ich in Eminent Persians erfahre. Schickte ich Abbas Milani eine Mail nach Stanford, würde die nächste Auflage womöglich in einer Fußnote vermerken, wem Reza Rastegar die Erlaubnis der Familie verdankte, als einer der ersten Iraner in Frankreich zu studieren. Daß der Großindustrielle, der für sein organisatorisches Genie und seine Detailversessenheit bekannt war, durch seine Unzuverlässigkeit einmal meinen Großvater ganz schön in die Bredouille brachte, wird ein Standardwerk aber sicher nicht erwähnen. Schließlich erwähnt Großvater umgekehrt auch nicht, daß Doktor Ragestar zu den hundertfünfzig Männern und Frauen gehörte Who Made Modern Iran .
    Von einem auf den anderen Monat, Anfang der fünfziger Jahre muß es gewesen sein, hatte Großvater keine Zeit mehr für Bücher, für seine jüngste Tochter (die älteste, meine Mutter, siebzehnjährig, hatte schon lange keine Zeit mehr für ihn), für seine Dörfer, nicht einmal für seinen Pir, den Ajatollah Hadsch Agha Rahim Arbab. Das Haus füllte sich mit Fremden, nicht drei oder vier Arbeitskollegen, nein, Trauben von sechzig, siebzig, manchmal hundert Menschen, die auf der Veranda die Schuhe auszogen wie vor einer Moschee, um durch die Eingangshalle, den Korridor und das Atrium zum Salon für die vornehmen Gäste zu gehen, wo sich manche von ihnen auf den Boden hockten, weil es im ganzen Haus nicht genügend Stühle gab. Damals waren es in Isfahan auch die Angehörigen der oberen Stände noch gewohnt, auf Teppichen zu sitzen, ohne Schuhe, versteht sich, zum Essen innerhalb der Familie, auf der Veranda, beim Picknick oder bei kleineren Geselligkeiten. In den Salons jedoch standen eng die Sessel, Sofas und Couchtische, die noch nicht das Rokoko beziehungsweise die orientalische Vorstellung des Louis XV imitierten wie nach der antiwestlichen Revolution, als die Iraner paranoid wurden in der Verwestlichung ihrer Privatsphäre, sondern schlichtere Möbel aus den Manufakturen oder ersten Fabriken Isfahans, Metallgestelle mit einfarbigen Stoffpolstern. Weil sich der Besuch in den Salons der vornehmeren Häuser nicht mehr auf Teppiche setzte, trat er neuerdings wie die Europäer mit Schuhen ein. Um so merkwürdiger fand es meine Mutter, daß die Gäste zwar wie einfache Leute ihre Schuhe auszogen, aber dennoch im Salon saßen. Oft zankte sie mit ihren Geschwistern um den besten Platz an der angelehnten Tür. – Aus dem Weg! verscheuchte Großmutter, die das Personal dirigierte, die Kinder regelmäßig. Nicht nur das Haus, die ganze Stadt hatte sich in einen Debattierclub verwandelt mit Pro- und Contra-Anwälten selbst auf Bürgersteigen, den Parteiführern, Intellektuellen, Geistlichen und Notabeln als vorsitzenden Kameraden und den Lokalzeitungen als Protokollanten, als hätten alle Isfahanis im Unterricht von Doktor Jordan gesessen. Wo immer meine Mutter hinhörte, noch in der Küche, wo Mohammad Hassan ohne Murren Sonderschichten schob, in den beiden Zimmern am Eingang des Grundstücks, in denen die Bauern übernachteten, in der Schlange vor der Bäckerei oder beim Schuster und erst recht winters am Korsi diskutierten die Menschen über die Kühnheit des neuen, dabei schon siebzigjährigen Premierministers Doktor Mossadegh und die Manöver des Schahs, über Volksherrschaft und die Drohungen Großbritanniens, über den dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus, über die Gefahr durch Stalin, die Hoffnung auf Truman und die Niedertracht von Churchill. Auch auf dem Schulhof unterhielten sich die Gymnasiastinnen über nichts anderes – doch, über eins: daß Soraya Esfandiari, die frühere Mitschülerin mit dem deutschen Akzent, den Schah geheiratet hatte. Die Enteignung der

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