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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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des Kollegen. Gelesen hat der Kollege noch nichts von der Reporterin, sosehr die Schweizer Unternehmer sie rühmten. Womöglich schreibt sie bessere Texte, wenn sie abweisender ist. Vor dem Festessen rief die Gnädige Frau an. Sie hatte dem Bildhauer erklärt, daß der Freund in Köln von ihrer Krankheit erfahren müsse, weil er sie doch liebe, Navid marâ dust dâreh , wie sie dem Bildhauer, der für sie Persisch gelernt hat, mit ihrem aserbaidschanischen Akzent gesagt haben wird. Hoffnung war überhaupt nicht herauszuhören. Der Bildhauer wird jetzt nicht zu Hause sein, dennoch … Das Fax meldet sich, nicht einmal der Anrufbeantworter. Also ein Brief, ein paar Worte nur, bevor der Freund die Tochter vom Judo abholt.
    Die Bahais betrieben Inzest, behauptete man früher über sie, Inzest und Gruppensex, genau der gleiche Vorwurf, der in der Türkei den Alewiten gemacht wird, wie gerade überall zu lesen ist, weil sie gegen einen Fernsehkrimi protestieren, in dem ein alewitischer Vater seine Tochter mißbraucht. Ist es nicht bezeichnend, fragt der Sohn die Eltern, daß die Schiiten im Iran den Bahais das gleiche unterstellen wie die Sunniten in der Türkei den Alewiten? Einmal die Woche trafen sich die angesehensten Bahais Isfahans bei Großvaters Cousin, der im Haus nebenan wohnte, und diskutierten über Religion, Philosophie und die Gesellschaft. Die Mutter und ihre Geschwister, die mit den Kindern des Cousins befreundet waren, setzten sich häufig dazu, ebenso andere Muslime der Verwandtschaft. Großvater murrte über die Ansichten und Meinungen, die er den Besuchern seines Cousins zuschrieb. Auch wenn es ihm nicht gefiel, daß seine eigenen Kinder an dem Zirkel teilnahmen, verbot er es ihnen nicht. Die Mutter meint noch gehört zu haben, daß die Bahais unreine Lebensmittel verzehrten. Sie weiß selbst nicht genau, was damit gemeint ist, ob Abfall, blutende oder verweste Tiere. Der Vater hebt hervor, daß die Bahais mit den Briten, später mit dem Schah im Bund gestanden hätten, und legt dem Sohn das Buch des Antiklerikers Ahmad Kasrawi nahe, der viele Beweise anführe. Daß die Bahais in der Familie der Mutter besonders ehrenwerte und gebildete Persönlichkeiten gewesen seien, fügt der Vater hinzu. Die größte Sünde für die Bahais sei es zu lügen, findet die Mutter für die Aufrichtigkeit eine theologische Erklärung, die dem Vater einleuchtet. Ebenso plausibel erscheint ihnen zunächst das Argument des Sohns, daß sich die Bahais wie jede Minderheit durch Charakterstärke, Geschlossenheit und Glaubwürdigkeit auszeichnen müßten, um dem Druck der Mehrheit standzuhalten: Bei den Armeniern sei es ähnlich. Nur leider nicht bei den Muslimen in Europa! spottet der Vater, um ein weiteres Mal auf den Einfluß zu verweisen, den die Bahais unterm Schah gehabt hätten, vor allem im Militär. Daß sie heute diskriminiert würden, sieht er ein, relativiert es aber zugleich damit, daß sie doch nur dann Schwierigkeiten hätten, wenn sie sich öffentlich zu ihrem Glauben bekennen. Der Sohn versäumt es, mit dem Argument zu kontern, daß die Lüge für die Bahais die größte Sünde sei. Ohnehin vertiefen sie das Thema nicht, weil der Sohn noch erfahren will, wann Großvater sein Leben aufschrieb. Dabei stellt sich heraus, daß Großvater gar nicht 1980 starb, sondern zwei, drei Jahre später. Die Trauerzeit, in die der Sohn geriet, galt Onkel Mahmud, Mahmud Schafizadeh, der hinterm Steuer eingeschlafen war. Großvater hat also den Tod seines jüngeren Sohns noch erlebt, natürlich, und jetzt kehren weitere Bilder zurück oder rücken in die richtige Reihenfolge. Mein letzter Eindruck: wie er sich in der Halle seines Hauses in die Hose macht und die Tante ihn im Schlafzimmer säubert, die Pyjamahose, die sie ihm auszieht, der Lappen, mit dem sie ihm die Scham und die Beine putzt – wieso schaute ich zu? –, sind die Tränen, sind die Heulkrämpfe, gegen die er sich nicht wehren konnte, der gar nicht großväterliche, sondern hilflose Blick, den er selbst einem Kind wie mir zuwarf. Die Szene fällt mir nicht erst jetzt wieder ein, natürlich nicht, aber jetzt geht mir auf, daß die Depression einen unmittelbaren Anlaß hatte, den Tod Onkel Mahmuds, der keine vierzig Tage zurücklag. Es war nicht der einzige Grund, wie die Mutter noch einmal

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