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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Flußwasser die umliegenden Täler fruchtbar zu machen, mit dem knappen Regenwasser das ganze Jahr auszukommen. Und so sei auch die spezifische Schönheit der iranischen Natur in Wahrheit oft Menschenwerk, wenngleich verlorenes, vergessenes. Wahrscheinlich könne man den Anfang vom Ende des Persischen Reichs dort ansetzen, wo seine Bewohner verlernt haben, mit dem Wasser umzugehen. – In nur zehn Jahren vernichtete der Schah, was fünftausend Jahre lang dafür gesorgt hatte, daß wir uns trotz der Wüstenlage selbst ernähren konnten, schließt der Vater seine Agrargeschichte Irans. Der Sohn ist nicht überzeugt davon, daß der Schah, dessen Anstrengungen zur Alphabetisierung der Vater immerhin lobt, bewußt die Zerstörung der iranischen Landwirtschaft herbeiführte. Auch Nirumands apodiktische Urteile würde er nach der Lektüre weiterer Fachliteratur relativieren. Im Ergebnis aber, bestätigt die Mutter, wächst in Berendschegan und Kartschegan kein Reiskorn mehr. Die revolutionäre Masse, die der Schah durch seine gut- oder schlechtgemeinte, jedenfalls mißratene Bodenreform selbst in die Städte trieb, bereitete nicht nur seiner Herrschaft ein Ende; sie fegte auch weite Teile des iranischen Bürgertums aus dem Land, Familien wie ihre, in denen es sich von selbst verstand, die Revolution zu unterstützen. Schaut man sich um, wer den Staat heute regiert, fragt nach den Biographien der höheren Beamten, Diplomaten, Minister, Generäle, Wirtschaftsführer, Universitätspräsidenten oder den Leitern der staatlichen oder staatsnahen Medien, sind es zu einem sehr hohen Anteil die Kinder oder Kindeskinder jener Bauern, die ihr Glück Ende der sechziger oder im Laufe der siebziger Jahre in den Städten suchten. – Und wie sehen heute Berendschegan und Kartschegan aus? fragt der Sohn, als die Familie bereits von der Severinsbrücke aus mit dem üblichen Seufzer die Silhouette mit dem Dom betrachtet, die Köln wenigstens nachts zur Schönheit macht. – Nicht wiederzuerkennen, antwortet die Mutter: Es sind richtige Städte geworden, Kartschegan hat sogar ein Kino, stell dir das mal vor, ein Kino in Kartschegan. – Was immer man gegen die Revolution sagen will, sie hat den einfachen Leuten eine Würde verliehen, sagt der Vater, sie hat Strom und Schulen in die Dörfer gebracht. Obwohl er die Mißstände am besten kennt, fällt ihm als weit und breit einzigem der großen Familie in solchen Diskussionen immer noch ein ausgleichendes Wort über die Revolution ein, über das sie dann regelmäßig streiten. Daß Kartschegan und Berendschegan Städte geworden seien, liege doch nur an der Bevölkerungsexplosion, die das Regime mutwillig herbeigeführt habe, will der Sohn dem Vater schon wie üblich etwas entgegenhalten; doch dann fragt er lieber die Frau, die mit der Mutter und der Älteren auf der Rückbank sitzt, wie das Lied ging, daß der Frauenchor gesungen hat. Es war ein merkwürdiger, anrührender Geburtstag, von solcher Normalität, wie man es sich ungewöhnlicher nicht vorstellen kann. Das deutsche Dorf schien mitsamt aller Helgas und Karl-Heinzens vollständig im katholischen Gemeindesaal versammelt zu sein, dazu der Frauenchor der Schwiegermutter, die seit ihrem Besuch der päpstlichen Mitternachtsmesse zwei, drei Plätze in die Mitte gerückt ist. Natürlich wurden selbstverfaßte Gedichte rezitiert, Lebensweisheiten von Albert Schweitzer vorgetragen und ein Sketch aufgeführt, der nicht einmal durch Unbeholfenheit zu retten war. Und dann waren da, etwa zu einem Drittel, die iranischen Gäste, ältere Männer in eleganten Anzügen und ihre brillantbehängten Gattinnen, die auf die persische Popmusik der siebziger Jahre warteten. Der Sohn fragt sich, wessen Erstaunen größer war: das Erstaunen der deutschen Dorfbewohner, denen aufging, wie fremd die Welt ist, aus der ihr Nachbar stammt, oder der bürgerlichen Exilanten, denen aufging, wie weit es sie von ihren Ursprüngen fortgetrieben hat, daß sie den Geburtstag ihres Freundes in einem Gemeindehaus der katholischen Kirche feierten, Neonröhren und grauer Estrich, gelb die Tapete, an der Jesus Christus zwischen rotblaugelben Papiergirlanden hing. – Stell dir vor, das wäre eine Moschee gewesen, wunderte sich der Vater. – Und stellen Sie sich vor, die Moschee hätte einem Christen

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