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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Tagebucheintrag einer Sekretärin, die Liebesbeichte des Direktors? Dem Kölner, der nichts anderes mehr als Abfall zu produzieren schien, öffneten just die Gebrauchszettel, Alltagszeugnisse und Aufzählungen die Tür zu Hölderlin. So skrupulös, wie sie vorgehen, werden die mehr als hundert Helfer mindestens ein Jahr benötigen, bis die Trümmer beiseite geräumt sind. Allein von der Berufsfeuerwehr wäre ein so langwieriger und aufwendiger Einsatz nicht zu leisten. So sind jeden Tag auch Dutzende von ehrenamtlichen Kräften im Einsatz, Studenten der Fachhochschule für Restauration, die freiwillige Feuerwehr, Vertreter fremder Archive. Und das alles für alte Schriftstücke? – Natürlich waren der Druck und die emotionale Belastung größer, als es noch um die Rettung von Menschen ging, erinnert der Brandamtsrat an die zwei Toten und sucht ein paar Sekunden nach dem richtigen Worten, um den Wert zu erklären, den man so leicht ideell nennt: Hier liegt das Gedächtnis Kölns begraben. Jedem einzelnen Feuerwehrmann stehe mehr oder weniger klar das Ziel vor Augen, daß spätere Generationen einmal sagen werden: Gut, daß sie sich damals soviel Mühe gegeben haben, es zu bewahren. Welche Anteile des Bestands, der nebeneinandergelegt dreißig Kilometer ergäbe, am Ende gerettet werden können, mag hier niemand vorauszusagen. Relativ gut scheint es um die Sammlungen aus den oberen Etagen zu stehen, aus denen neben einzelnen Blättern und Büchern immer wieder ganze Kisten geborgen werden. Weiter unten hingegen könnten sich die Dokumente buchstäblich in Wasser aufgelöst haben. Die Archivare, die die Funde der Feuerwehr auf verschiedene Abfallcontainer verteilen, kennen die Bestände genau und wissen daher, wie sich die Chancen verteilen: Während sie für die privaten Nachlässe aus der sechsten Etage hoffen dürfen, benötigen sie für die hunderttausend Karten oder die fünfzigtausend Plakate aus der zweiten Etage schon ein Wunder. Weil das Gebäude zur Nordseite hin eingestürzt ist, sieht es auf der Südseite besser aus. Weil es kurz nach dem Einsturz des Archivs geregnet hat, haben sich die Aussichten verschlechtert. Weil die Einsturzstelle jetzt überdacht ist, kann in Ruhe gesucht werden. Als würde er ein Baby im Arm halten, trägt ein Feuerwehrmann ein ungewöhnlich großes und dickes Buch in einem Einband aus vergilbtem Leder aus der Grube. Alle umstehenden Helfer, die Höhenrettung und auch die Arbeiter des Abrißunternehmens treten an den Container, um die reichgeschmückten, mit Blumendekorationen verzierten Blätter zu betrachten: »Das große Stamm- und Wappenbuch der freien Reich Statt Köllen, In welchen sich befinden die Stamm-Taffelen und Wappen deren vornehmsten Familien, so in selbiger geboren und sich noch befinden, so wohl Adel als unAdel, so an selbigen Patritiis geheyrathet. Der Nachwelt zum Nutzen und Nachricht aus vielen alten Schriften und Archiviis mit unermütheter Arbeit und Fleiß zusammen getragen durch Ioann Gabriel von der Ketten der Collegiat Kirchen S . Georgii in Köllen Canonicus.« Anschließend geht einer der Archivare mit dem Buch zum Zaun und zeigt es den etwa zwanzig Schaulustigen. Keiner von ihnen dürfte sich je für eine Kölner Familiengeschichte des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts interessiert haben, wer wann geboren, wann gestorben, wer sich mit wem vermählt. Für jeden anderen auf der Baustelle außer dem Archivar selbst, der auf Anhieb einige Stichwörter zur Familie von der Ketten nennt, sind es nur Namen. Und doch scheint sich jeder mit ihm zu freuen, daß sie erhalten geblieben sind. Warum ist das so? Für die Schaulustigen mag es die Freude über einen gelungenen Schnappschuß sein; für die Helfer muß es mehr sein, auch wenn sie es auf Nachfrage nicht konkreter benennen können als der Brandamtsleiter. Es liegt im Wesen des Ideellen, daß es nicht auf einen Begriff gebracht werden kann. Die Archivare und Restauratoren zählen ohnehin keine Überstunden; seit dem Einsturz hatten sie keinen freien Tag, nicht einmal einen halben. Aber auch die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehren und des Technischen Hilfswerks verbringen ihre Freizeit damit, mittelalterliche Handschriften, Nachlässe von Künstlern und abgelaufene Verträge zu suchen, die unter den Trümmern liegen, weil andere

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