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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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sündigen.‹ Mitten in die betroffene Stille, die auf den Bänken herrschte, rief der Schüler Kazemzadeh, der erst einige Tage zuvor vom Theologischen Seminar auf die Amerikanische Schule gewechselt war und noch nicht die Gepflogenheiten in einer Kirche kannte: ›Aber Herr Doktor, irgendwann muß diese Erbschaft doch einmal aufgebraucht sein!‹« Weil in der Selberlebensbeschreibung keine Anführungsstriche stehen, ist nicht ganz klar, ob die folgenden Sätze noch ein Zitat des Schüler Kazemzadehs sind oder Großvaters eigene Worte: »Adam selbst mag zu Recht bestraft worden sein. Aber weshalb läßt Gott der Erbarmer und Barmherzige nicht von uns Kindern Adams ab? Ist es denn mit Seiner Gerechtigkeit vereinbar, daß eine Schuld nicht nur vom Schuldigen gebüßt wird, sondern bis zur Auferstehung von Milliarden und Abermilliarden Menschen, die für den Sündenfall gar nicht verantwortlich sind?« Doch, es ist Großvater selbst, der diese Frage stellt, denn im letzten Satz des Abschnitts bemerkt er: »Lieber Leser, wenn Ihnen meine Fragen überflüssig und meine Argumente schwach erscheinen, halten Sie sich bitte an die Erklärungen, die der verehrte Verfasser der Serie ›Die Bedrängnisse des Stellvertreters‹ [also des Menschen] in der Zeitschrift Yaghmâ gab, und seien Sie so gütig, mir zu verzeihen, daß ich mich in meiner Stümperhaftigkeit als dessen Schüler versuchte.« Den nächsten Abschnitt habe ich noch nicht gelesen, aber in der ersten Zeile taucht der Name Ajatollah Chomeinis auf. Also muß es um die Revolution gehen und erstreckt sich die Selberlebensbeschreibung Großvaters vielleicht doch bis in die Islamische Republik, wie ich es auch aus dramaturgischen Gründen hoffte, seit sein Leben zum Roman im Roman wurde, den ich schreibe. In den Fragen, die ich für alles andere als überflüssig, und den Argumenten, die ich für alles andere als schwach halte, so daß ich nicht in der Serie »Die Bedrängnisse des Stellvertreters« nachzusehen brauche, klingt jedenfalls schon die Häresie heraus, die seinem gelehrtesten Freund im Ohr geblieben ist.
    Von Großajatollah Ruhollah Mussawi Chomeini, wie man ihn korrekt nennen müßte, nicht nur Ajatollah, wie der Westen den Titel abkürzt, aber schon gar nicht Imam, als den ihn die Islamische Republik heiligt, obwohl sie weiß, daß die Anrede den zwölf göttlich inspirierten Nachfolgern des Propheten vorbehalten ist, niemandem sonst auf Erden bis zur Wiederkehr des Mahdi, wie Großvater und überhaupt alle Frommen unter meinen Verwandten bitter betonten, wenn im Staatsfernsehen vom Imam die Rede war – von Großajatollah Chomeini habe ich außer den Fernsehbildern unseren Besuch im Pariser Vorort Neauphle-le-Château in Erinnerung, kurz vor oder nach Neujahr 1979. Ich war gerade elf geworden, hatte Weihnachtsferien und eiferte zum letzten Mal dem Vater nach, der lange und laute Reden auf allen Familien- und Freundesrunden hielt, Briefe an die Siegener Lokalpresse schickte, Broschüren über den Folterapparat des Schahs an die Kunden seines Teppichgeschäfts verteilte, von denen er viele deswegen verlor, sich mit Nachbarn anlegte, die Zweifel anmeldeten oder ihn verhöhnten, wie ich von deren Kindern erfuhr, und deswegen nur Imperialisten sein konnten. Meine älteren Brüder und meine Mutter, die mit nach Paris fuhren, waren zurückhaltender, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, aber dennoch für die Revolution, natürlich, weil meiner Erinnerung nach alle für die Revolution waren, selbst Großvater zunächst. Erst Monate später erfuhr ich von der Möglichkeit, die Revolution ablehnen zu können, da hatte ich meinen Kinderglauben noch längst nicht verloren. Bis heute ist es mir peinlich, daß ich nach der Rückkehr aus Paris ein Photo von Chomeini an die Wand heftete, Großajatollah Chomeini zwischen den Tierpostern oder vielleicht schon zwischen den Kunstdrucken von Dalí; ich weiß nicht mehr, wann genau der Surrealismus die Naturwelt ablöste. Ein Freund, der mich gerade dieser Tage nach vielen Jahren anrief, weil er Vater geworden ist, zielte einmal mit einem Ball oder einem Pfeil auf Großajatollah Chomeini und sollte sich noch lange darüber lustig machen, wie sehr ich mich darüber aufregte. Mein Ärger über seinen Wurf wurde später von der Scham

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