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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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mich, wenn du unbedingt willst, ich lege mich schlafen, und du tötest mich. Nimm dir ein Messer und töte mich, dann bist du endlich frei und ich auch.‹ Dann richtete er mich auf, nahm wieder mein Gesicht zwischen seine Hände, küßte meine Stirn und sagte: ›Ich habe nichts mehr zu sagen. Komm, laß uns nach Hause fahren.‹« Zwar ist der Part Großvaters damit erzählt, doch das Ende der Geschichte so tränenselig, daß ein Romanschreiber unmöglich abbrechen kann: »Bis zum Mittag weinte ich allein in meinem Zimmer. Nur einen Wunsch hatte ich noch, einen einzigen Wunsch: Ich wollte meinen Geliebten ein letztes Mal sehen und fragen, warum er das getan hatte. Ich habe ihn auch gesehen. An einer einsamen Stelle am Ufer des Zayanderuds trafen wir uns. Ich hatte Mohammad Hassan mitgenommen, der in einiger Entfernung Pistazienschalen in den Fluß spuckte. Kein Wort kam mir über die Lippen. Ich weinte nur und weinte. Und mein Geliebter weinte auch und sagte ebenfalls kein Wort. Ich weiß nicht, wie lang wir zusammen weinten, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Als die Tränen versiegten, holte er eine Kiste aus seiner Jackentasche und öffnete sie. ›Schau‹, sagte er, ›das sind die Edelsteine meiner Mutter. Mit diesen Edelsteinen können wir überall hingehen. Wir können ins Ausland gehen, in welches Land wir auch wollen. Ich habe Möglichkeiten dort, weißt du, Verbindungen. Du mußt nur ein Wort sagen: das Wort ja.‹ Da stand ich auf, rief Mohammad Hassan und ging, ohne mich von meinem Geliebten zu verabschieden.« Einige Wochen später, die Mutter bereitete sich gerade auf die restlichen Abiturprüfungen vor, holte sie zur Entspannung einen Stapel von Boulevardzeitschriften hervor, den sie vor Großvater versteckt hielt. Wie sie in den Zeitschriften blätterte, entdeckte sie, daß die großartigen Liebesbriefe, die sie von ihrem Liebhaber erhalten, Wort für Wort aus dem Fortsetzungsroman von Djawad Fazel abgeschrieben waren, nicht einmal aus abgelegenen poetischen Quellen, vielmehr der populärsten Schundlektüre jener Zeit. »Alles war Lüge gewesen. Mit einer Handvoll Lügen hatte mein Liebhaber mich verwirrt und in Trance versetzt.« Die Mutter gesteht selbst, daß mein Vater keinen einfachen Stand hatte, als er in ihr Leben trat. An Liebe, war sie überzeugt, an Liebe würde sie nie wieder glauben.
    Das Paradox besteht aber nun darin, daß ausgerechnet Hölderlin, der die Dichtung von sich und seiner Umwelt so weit wegrückt, wie es nur je ein deutscher Dichter vermochte, sich fremde Schauplätze sucht, mythische Motive bevorzugt und auch sprachlich wie auf Stelzen geht, die wachsen und wachsen, daß ausgerechnet Hölderlin mit seinen sehr irdischen Zweifeln, Liebesnöten, Depressionen, Sehnsüchten und wirtschaftlichen Existenzängsten in seiner Dichtung von Jahr zu Jahr sichtbarer wird. Wie sich die Zettelsuche vor Suzette Gontards Frankfurter Fenster, die kurze Erfüllung in Bad Driburg oder ihr Briefwechsel, wenngleich wundersam verwandelt, aufgehoben in Hegels dreifachem Sinne im Hyperion wiederfinden, hat der Roman, den ich schreibe, bereits anzudeuten versucht. Aber auch die späten Hymnen, Elegien und Nachtgesänge, die mir wie den meisten Lesern so viel reicher, originärer und tiefgründiger als das Frühwerk erscheinen, sind bis in die Melodie, bis in die syntaktische Verschlungenheit der Satzeinheiten, bis in den nach vorn eilenden, dann wieder stockenden, wie entlang einer Klippe sich hangelnden Rhythmus erfüllt von der Wirklichkeit, von Hölderlins realen Erfahrungen, etwa im »Patmos« das ungeheure Bild, das er von den Gewaltmärschen allein quer durch die Schweiz mitgebracht hat, das wirklich erlebte Bild der Berge und ihrer Bewohner, das ihm zu einem Bild aller Schicksalsgewalt und aller Menschen gerät: »Finsteren wohnen / Die Adler und furchtlos gehen / Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg / Auf leichtgebauten Brücken. / Drum, da gehäuft sind rings / Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten / Nah wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen, / So gib unschuldig Wasser, / O Fittige gib uns, / treuesten Sinns / Hinüberzugehen und wiederzukehren.« Ein Gebet ist das, ein Gebet wie jenes allein in der Auvergne, von dem er nach der Ankunft in Bordeaux der Mutter schrieb, gesprochen von dem,

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