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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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finden, an die Du glaubst. Alles werde ich daransetzen, daß es wieder stimmt.«
    Was schließlich die Leser betrifft, von den zeitgenössischen bis zu den heutigen, den Gelehrten und Laien, haben sie Hölderlin und Jean Paul, soweit ich sehe, kaum je in einen Zusammenhang gebracht, verglichen oder im Titel einer Studie gemeinsam angeführt. Die Leser haben ja recht, die zeitgenössischen und die heutigen, die Gelehrten und die Laien – was Jean Paul und Hölderlin gemeinsam, sind Orte, Daten, Bekannte, Förderer und Verächter. Gewiß könnte man die eine oder andre Verbindung in ihrem Werk aufzeigen, aber in der Summe ginge es nicht über das hinaus, was an zwei beliebigen Dichtern derselben Zeit, Sprache, Konfession und Herkunft an der einen oder anderen Stelle immer an Vergleichbarem zu finden sein wird. Es bliebe zufällig. Ich bin es, für den Jean Paul und Hölderlin notwendig verbunden sind, da ich sie zur selben Zeit, aus derselben Not, mit derselben Ahnungslosigkeit las. Ich bin die Verbindung, die der Germanistik nicht standhalten wird und so willkürlich gesetzt ist, wie es Jean Paul in der Vorschule Gott zuschreibt und dem Romanschreiber erlaubt, damit jede Entwicklung eine höhere Verwicklung sei. Hölderlin sagt: »Alles kommt also darauf an, daß das Ich nicht bloß mit seiner subjectiven Natur, von der es nicht abstrahiren kann ohne sich aufzuheben, in Wechselwirkung bleibe, sondern daß es sich mit Freiheit ein Objekt wähle, von dem es, wenn es will, abstrahieren kann, um von diesem durchaus angemessen bestimmt zu werden und es zu bestimmen.« Jean Paul sagt etwas völlig anderes: »Kein Mensch in der Welt gewinnt durch eine Selbstbiographie; sie also zu schreiben, ist Demut.« Ich bin Gott, sagen die Mystiker beide. Was sie, was ich, was sowohl Jean Paul als auch Hölderlin meinen könnten, was überhaupt in dem Satz »Ich bin Gott« auf die Literatur übertragen mit Gott gemeint sein könnte, das wird sich der Poetologe begreiflich machen müssen, bevor er am Pult von Theodor W. Adorno über den Roman spricht, den ich schreibe.
    Aus der Radiologie, wo er alle drei Monate danke einatmet, danke nicht mehr atmet, danke weiteratmet, will der Romanschreiber am Dienstag, dem 6. Oktober 2009, um 8:13 Uhr das Wirtschaftsmagazin klauen, dessen Titelgeschichte das neue Ehe- und Familienrecht behandelt – »Sie glauben, das neue Scheidungsrecht betrifft sie nicht?« – und Hinweise nicht nur finanzieller Art enthält – »Sie denken, der Richter weiß, was gut für Ihre Kinder ist?« –, die er nicht alle abtippen kann, während er sich darauf konzentriert, auf nüchternen Magen die zwei Liter Kontrastmittel zu trinken, ohne zu erbrechen. Daß er sich von einem auf den anderen Absatz vom Vergessengeglaubten in einen Umworbenen verwandelt, ist für den Romanschreiber selbst die wundersamste Wendung des Romans, den ich schreibe, ob es ihm auch niemand abnehmen wird und selbst die Agentin die Verkäuflichkeit plötzlich immer schon vorausgesehen haben will. Er ist zu sehr mit dem Kontrastmittel beschäftigt, das jeden Augenblick aus der Speiseröhre schießen könnte, um in den diversen Dateien, auf die der Roman inzwischen aufgeteilt ist, den ich schreibe, die Seite zu suchen, aber irgendwo oder vielleicht mehrmals mokierte er sich über die Bekenntnisse der Erfolgreichen, sich während der Arbeit mit Selbstzweifeln geplagt zu haben; ihm schien das billig, wenn die Zweifel unterdessen ausgeräumt sind, und nun wird er bei der Bearbeitung der Urschrift irgendwo oder vielleicht mehrmals auf die Zweifel stoßen, 2007 und am quälendsten 2008, die er bei zu vielen Wiederholungen in der lesbaren Fassung streicht oder an anderer Stelle dramatisiert, während der Agent weiter vorn in der Urschrift, die die Echtzeit abbildet, bereits um den Vorschuß feilscht. Vor Ehrfurcht wurde ihm beinahe schlecht, als er in Frankfurt vor dem Haus ausstieg, in dem alle Bücher verlegt werden, fast alle, die ihn erzogen. Er sah die Schaukästen im Eingang und malte sich sein eigenes Gesicht zwischen den Porträts aus – herrje, wie soll einem Romanschreiber denn nicht beklommen zumute sein, der den bedeutendsten Verlag Deutschlands im Bewußtsein betritt, dazugehören zu dürfen, wenn er nur unterschriebe? Und mögen alle sagen und die Zeitungen gerade diesen Herbst wieder

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