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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Flugzeug, schreibt der Vater, Ketabi besorgt dir in Teheran das Ticket.
    Â»Eine der bittersten und schmerzvollsten Erinnerungen meines Lebens sind die letzten Tage in Isfahan, als ich Zeugin der Tränen, des Kummers, der Verzweiflung, der Seufzer und der Wehklagen von Papa und Mama war. Manchmal weinte ich mit ihnen, manchmal weinte ich allein, damit sie mich nicht sahen, und am heftigsten weinte ich an der Bushaltestelle, als Mama vor Jammer aufschrie, während ich unterm Koran herging, den Papa Rotz und Wasser heulend in die Höhe hielt. Jemand riß mich und die Kinder aus ihren Armen und führte mich zum Bus, weil der Fahrer schon mehrmals gehupt hatte. Der Bus fuhr ab, und ich drückte mit der einen Hand mein Baby an die Brust und beruhigte mit der anderen Hand den Jungen, der ebenfalls heulte, obwohl er noch nicht verstehen konnte, warum alle so traurig waren. Ich umarmte ihn ganz fest und streichelte sein Haar, während das Baby an der Brust einschlief. Kurz bevor wir Murtsche Chorad erreichten, wo die Busse nach Teheran die erste Rast einlegten, sah ich von meinem Platz direkt hinterm Fahrer ein Taxi, das uns überholte und in einiger Entfernung vor uns stehenblieb. Dann stieg eine kleine, gebeugte, kummervolle Gestalt aus dem Taxi und stellte sich mit ausgebreiteten Händen auf die Straße, so daß der Bus ebenfalls halten mußte: Papa! Mit dem Ärmel seines grauen Mantels strich er sich die Tränen aus dem Gesicht. Bevor ich ihn mit dem schlafenden Baby in den Händen erreichte, war der Junge schon aus dem Bus gesprungen und in seine Arme gerannt. Zu viert hielten wir uns fest und weinten und weinten. Einer nach dem anderen versammelten sich die Mitreisenden um uns und schauten uns ratlos zu. Ich weiß nicht, wie lang wir so auf der staubigen, einsamen Straße standen. Irgendwann erkundigten sich die Mitreisenden, warum wir so weinten und wohin die Reise gehe, und irgendwann fing der Fahrer an zu hupen. Einige Mitreisende umringten Papa und redeten beruhigend auf ihn ein. Jemand nahm den Jungen sanft aus seinen Armen und trug ihn zum Bus. Ein anderer legte seinen Arm um meine Schultern und führte mich mit dem Baby ebenfalls zurück an meinen Platz. Der Bus fuhr ab, und zurück blieb mein über alles geliebter, unvergleichlicher Papa heulend am Straßenrand mitten in der unabsehlichen wimmernden Wüste.«
    In dem Roman, den ich schreibe, könnte er aus dem offenen Fenster der ehemaligen Scheune ebensogut eine große iranische Decke im Schatten eines Baumes und darauf die Frau den Roman lesen sehen, den ich schreibe. Neben ihr verkaufte die Frühgeborene Birnen, Äpfel, Käse und was ein Kaufladen sonst alles bietet. Zur Postkarte würde die Aussicht durch den Bach und die Kühe, die auf der anderen Seite des Baches grasen, die Wälder, die sich hinter den Wiesen erheben, und zwei Esel am Rand, die der Nachbar zum Rasenmähen gebracht hat. Auf dem dritten Esel wäre die Ältere mit den Bauernkindern ausgeritten wie der Mann als Kind in Tschamtaghi. Außer dem Bach hörte er das Vogelgezwitscher und gelegentlich den Wind, so daß er keine Postkarte sähe, sondern einen amerikanischen Film, wie amerikanische Filme oft gar nicht mehr sind, zum Ende eines Künstlermelodrams das Idyll mit Familie. Die Aussicht ist am Mittwoch, dem 9. August 2010, um 13:52 Uhr dieselbe, nur daß niemand vor dem Fenster zu sehen ist außer den Kühen und dafür allen drei Esel, er auch keinen Sandkasten gebaut hat, die Scheidung eingeleitet in beiderseitigem Einverständnis, die finanziellen Angelegenheiten zwar nur in groben Zügen, gleichwohl selten harmonisch geklärt, das gemeinsame Sorgerecht selbstverständlich, Auszug der Frau zum Ende des Monats. – Gut, du hast es als Therapie gebraucht, wird sie gedacht haben, als sie in Spanien den Roman zu lesen begann, den ich schreibe, als Therapie, um mit allem möglichen fertig zu werden, womit er so bestimmt nicht fertig werde: aber so stelle man doch niemanden bloß. Auf den Spuren dieser, wie hieß sie noch?, dieser Ruth Schweikert gehe er über Leichen, gut, nicht über Leichen, natürlich nicht, oder in gewisser Weise doch, sogar über Leichen und wie erst über die eigene Frau. Wie sie oder überhaupt ein Nächster ihm je wieder vertrauen könne, fragt er sich selbst und bildet sich ein, über ein Mittel zu verfügen, das heilt: Er müsse nur mit dem

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