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Stich lassen könnte, wenn meine Rettung zu gefährlich wäre. Es gibt Situationen, in denen man einige Menschen opfern muÃ, um viele zu retten. Der Photograph ist über Sodom und Gomorrha eingeschlafen. Der Berichterstatter stellt den Wecker so, daà er jede Minute Schlaf ausschöpft. Nach der Gnädigen Frau, die sich über eine Kurzmitteilung aus Kabul vielleicht freuen würde, hat der Freund sich kein einziges Mal erkundigt. Der Moderator im Rundfunk, der Koranlehrer in Leiden, der Soziologe in Frankfurt, die Eltern, der Onkel?
Am dritten Tag verabschiedet sich der Berichterstatter per Handschlag von den beiden Presseoffizieren, die ihn bis zum Tor des Militärlagers begleitet haben. Sie machen sich Sorgen, weil sie für seine Sicherheit verantwortlich sind, und zugleich neugierig, was er nach der Rückkehr ins Raumschiff erzählen wird, das sie wie alle Angehörigen des Nordatlantikpakts nur im Militärkonvoi verlassen dürfen. Aus Angst, zuviel zu zahlen, entfernt der Berichterstatter sich hundert Meter, bevor er ein Taxi nimmt. Er will den Kopf frei kriegen von den persönlichen Geschichten der Soldaten. Er glaubt ihnen, daà sie es gut meinen. Aber er will verstehen, warum es nicht gut läuft. Der erste Eindruck ist von trostloser Normalität: Verkehrsstau, Trümmer, einfachste Betonverhaue statt Häuser, Armut. Keine Bäume, keine Cafés, kein Lachen. Die einzigen, die in Kabul verweilen, sind Krüppel und die offenbar unvermeidlichen Kinder, die sich Klebstoff vor die Nase halten. Aber auch viele Frauen sind auf den StraÃen zu sehen, ohne Burkas, Schulkinder, Mädchen und Jungen. Doch, die Schulkinder, sie lachen. Man muà den Blick auf die Schulkinder heften, um in Kabul nicht depressiv zu werden. Wer hingegen in alten Reiseberichten gelesen hat, wie die Stadt vor fünfhundert, vor fünfzig und noch vor fünfundzwanzig Jahren aussah, wird seines Tages nicht mehr froh. Kabul war einmal ein Garten. Hier gediehen Trauben, Granatäpfel, Aprikosen, Ãpfel, Quitten, Birnen, Pfirsiche, Pflaumen und Mandeln, wie Kaiser Babur 1501 in seinen Memoiren vermerkte. Die ganze Pracht Indiens, das er eroberte, wog die dreiunddreiÃig Sorten wilder Tulpen nicht auf, die in Kabul blühten. Nüsse gab es im ÃberfluÃ, und der Wein war berauschend. Noch Bouvier fand 1954 ein Kabul vor, das »dem von Babur gezeichneten Bild einer wunderbaren Stadt« nahekam. Und der Polyglott-Führer von 1974 versprach dem Reisenden »einzigartige Eindrücke, die kein anderes Land in dieser Vielfalt vermitteln kann«. Gut ausgebaute StraÃen und ein dichtes Binnenflugnetz erleichterten das Reisen. Die neue Zeit dokumentierte sich in modernen Marmor- und Zementbauten sowie in Glasfassaden. Bedauerlich sei nur, klagt der Polyglott, daà Kabul ein Dorado für Drogensüchtige geworden sei, die dem Ansehen der Europäer erheblich geschadet hätten. Hippies stellen in Afghanistan heute kein Problem mehr dar. Im Gegenteil: Heute exportiert Afghanistan seine Probleme. Fünf Jahre nach dem Sturz der Taliban vermelden Fachleute der Vereinten Nationen, daà nie zuvor auch nur annähernd so viel Mohn angebaut worden sei wie unter den Augen des Nordatlantikpakts, 92 Prozent des Opiums auf der Welt. Das Wirtschaftswachstum, das Afghanistan aufweist, verdankt es nur zum kleineren Teil dem Wiederaufbau; zum gröÃten Teil sind die neuen Villen, Bürogebäude und Einkaufszentren, die es in Kabul auch zu sehen gibt, aus Drogengeschäften finanziert. Und der Milizenführer, der in Afghanistan für die Drogenbekämpfung verantwortlich ist, gilt selbst als einer der gröÃten Drogenbarone des Landes.
Der ausländische Berichterstatter begleitet eine einheimische Journalistin ins Parlament, die mit einem schiitischen Geistlichen aus der sogenannten »Reformfraktion« zum Interview verabredet ist. Der Geistliche verlangt Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Minderheiten. Die Verfassung müsse dafür nicht geändert, sondern nur angewandt werden. â In diesem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche, sagt der Geistliche der Journalistin und blickt ihm betroffen in die Augen, werden achtzig Prozent aller Angelegenheiten in diesem Staat nach MaÃgabe von Beziehungen, nicht von Gesetzen geregelt. Afghanistan sei ein islamischer Staat, aber die Theokratie in Iran nicht dessen Modell. Auf die Frage, ob das Parlament das
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