Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Katastrophe rennen lassen. Deswegen war er hier.
Er wandte sich um, als der behandelnde Arzt den Raum betrat, ein hellgrüner Mundschutz baumelte um den Hals des Mannes, auf dem Kopf trug er ein Haarnetz, als käme er gerade aus dem OP. Er nahm es ab und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen blonden Locken. Er war nicht älter als Anfang dreißig, und Håkan ertappte sich dabei, dass er allein deswegen seine Kompetenz in Frage stellte. Das war nicht gut.
»Håkan Bergström, Polizei Stockholm«, stellte er sich deshalb mit einem umso herzlicheren Lächeln vor und präsentierte seinen Dienstausweis. »Danke, dass du dir gleich Zeit genommen hast.«
»Torben Lund«, erwiderte der junge Arzt. »Was kann ich für dich tun?«
»Es geht um Caroline Wolff.«
Lund warf einen Blick durch das Fenster. »Ja?«
»Wie sind ihre Heilungschancen?«, wollte Håkan wissen.
Der Arzt rieb sich das Kinn und wandte sich dem Schreibtisch zu, der unter dem einzigen Fenster stand. Ein Stapel Krankenakten lag darauf, aus dem er eine herausnahm, aufschlug und durchblätterte. »Wir sind optimistisch. Es wird eine Weile dauern, aber wenn die Therapien weiter so gut anschlagen …«
»Wie lange?«, fiel Håkan ihm ins Wort.
Der Arzt blätterte erneut. »Vier bis sechs Wochen mindestens.«
Håkan überdachte die Information einen Moment. »Ist eine Verlegung in eine andere Klinik möglich?«
»Wann?«
»Sofort.«
Lund sah zu Caroline und auf die zahlreichen blinkenden Geräte neben ihrem Bett. »Wir haben sie einigermaßen stabilisiert, aber momentan benötigt sie eine durchgehende intensivmedizinische Betreuung.«
»Das heißt?«, erkundigte sich Håkan.
»Von einem längeren Transport würde ich zum jetzigen Zeitpunkt abraten. Zudem …« Torben Lund zögerte.
»Ja?«
»Sie ist psychisch labil. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen.« Er räusperte sich. »Da ist eine Verlegung nicht unbedingt sinnvoll.« Er legte die Krankenakte zurück auf den Schreibtisch. »Darf ich erfahren, warum sich ein Polizeibeamter aus Stockholm zu uns verirrt und mir solche Fragen stellt?«
Håkan dachte an Mette. »Caroline Wolff hat auf einen meiner Kollegen geschossen«, sagte er dann. »Ich habe den Fall übernommen.« Es war nur ein kleiner Teil der Wahrheit.
Der junge Arzt schob die Hände in die Taschen seines Kittels. »Ich kann einer Verlegung nur zustimmen, wenn du einen entsprechenden Transport, am besten per Hubschrauber, organisieren kannst.«
»Danke«, sagte Håkan. Er verließ die Intensivstation und ging durch lange Flure zu Ulfs Zimmer, wohl wissend, dass der schwerste Teil seiner Aufgabe noch vor ihm lag.
*
»Du willst was?«, fuhr Ulf ihn an. »Sie verlegen lassen? Nach Stockholm?« Er schaute ihn fassungslos an. »Wenn du das tust …«
»Ulf, bitte«, warf Håkan beschwichtigend ein, »hör mir erst einmal zu.«
»Ich wüsste nicht …«, schnaubte Ulf, aber Håkan bat ihn mit einer Geste zu schweigen. »Ich habe mit dem behandelnden Arzt gesprochen. Er hat keine Einwände gegen eine Verlegung. Zumal sie in einem größeren und moderneren Krankenhaus besser betreut werden könnte.«
»Warum?«, fragte Ulf wütend. »Damit du sie möglichst schnell in eine Gefängniszelle stecken kannst?«
»Ulf, bitte …«
Aber Ulf drehte ihm den Rücken zu, sah aus dem Fenster und schwieg. »Ich dachte, wir wären Freunde«, bemerkte er schließlich.
»Deswegen bin ich hier«, antwortete Håkan.
Er sah, wie Ulf den Kopf schüttelte. »So funktioniert das aber nicht, Håkan. Du kannst nicht einfach herkommen und deine Vorstellungen durchsetzen.«
»Meine Vorstellungen?«, wiederholte Håkan, der allmählich die Geduld verlor. »Sag mal, spinnst du? Die Frau hat einen Mann erschossen.«
»Ja, verdammt, das weiß ich!«
»Und? Was willst du dann tun, Ulf?«
Endlich drehte er sich zu ihm um. »Ich werde mit ihr fortgehen.«
»Bitte?«
»Ich werde mit ihr fortgehen«, wiederholte Ulf. »Weg aus Schweden. Fort aus Europa.«
»Du bist verrückt«, hielt Håkan ihm entgegen. »Du kannst doch nicht alles aufgeben. Wie stellst du dir das vor?« Er atmete tief durch. »Und wovon zum Teufel willst du im Ausland leben?«
Ulf starrte ihn angriffslustig an, und Håkan war plötzlich erleichtert, dass Ulf auf seinen Krücken nur begrenzt beweglich war. »Das kannst du getrost meine Sorge sein lassen«, sagte sein Kollege knapp und wandte ihm erneut den Rücken zu.
Håkan setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, und
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