Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
zweite Chance bekommen, wenn nicht jener betrunkene Autofahrer in Hamburg in seinem Leichtsinn alles zerstört hätte. Schweren Herzens legte Ulf die Fotografie von Caroline und Lianne zur Seite und sah aus dem Fenster über den See und die verschneiten Berge. Er schämte sich nicht dafür, dass er Genugtuung darüber verspürte, dass der Mann tot war, der ihm seine Familie genommen hatte. Aber er wusste auch, dass er ihm unrecht tat, wenn er ihm allein alle Schuld aufbürdete. Die Wurzeln lagen so viel tiefer, so viel weiter in der Vergangenheit.
Abwesend streichelte Ulf den Hund, der neben ihm auf der Couch lag, den Kopf auf seinen gesunden Oberschenkel gebettet, dann griff er nach der Flasche Whiskey auf dem Couchtisch, schenkte sich ein und nahm einen langen Schluck. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, während sich der Alkohol warm und betäubend in ihm ausbreitete. Die Flasche war halbleer, obwohl es noch nicht einmal Mittag war, aber es war die einzige Möglichkeit, den Schmerz auszuhalten. Mit der Zeit würde es einfacher werden. Hoffte er.
»Du solltest nach Stockholm zurückgehen«, hatte Maybrit ihm in ihrer spröden und direkten Art vor ein paar Tagen an den Kopf geworfen und missfallend die Ansammlung leerer Flaschen in der Küche betrachtet.
»Sperrst du mich sonst wieder ein?«, hatte er provokant zurückgegeben und sie über den Rand seines Glases angesehen. Stumm hatte sie seinem Blick standgehalten, und er hatte seinen Fehler sofort bereut. »Es tut mir leid. Das war nicht gut.«
»Es war unfair«, hatte sie geantwortet. Er hatte immer geahnt, was es sie gekostet hatte, ihn damals einzusperren und durchzuhalten, trotz seines Flehens, seines Bittens und seiner Drohungen. Jetzt wusste er es. Himmel, sie war damals selbst kaum erwachsen gewesen.
»Gib mir ein bisschen Zeit«, hatte er sie gebeten, und dasselbe hatte er Håkan gesagt, der angerufen und gefragt hatte, wie es ihm ging und wann er zurückkommen würde. »Alles, was ich im Moment brauche, ist ein bisschen Zeit.«
Zeit zu erkennen, dass ihn in all den Jahren, auch wenn er es sich selbst nicht eingestanden hatte, das Bewusstsein getragen hatte, dass Caroline irgendwo auf dieser Welt war, und mit ihm die Hoffnung, dass er sie finden könnte. Zeit zu entscheiden, wie er weiterleben wollte, jetzt, da ihm diese Hoffnung genommen war. Ob er die Trostlosigkeit dieser Welt ohne Caroline ertrug, das verzehrende Grau, das Nichts. Drei Wochen waren seit ihrem Tod vergangen, und er war noch zu keinem Entschluss gekommen.
Der Hund streckte sich neben ihm, schlug seine dunklen Augen auf und sah ihn an. »Du vermisst sie auch, nicht wahr?«, sagte Ulf leise und fuhr ihm mit den Fingern über die Schnauze.
Unbeholfen sprang das Tier von der Couch und trottete zur Tür. Seine Wunde war noch nicht ganz verheilt. Eine lange kahle Narbe zog sich über seine linke Schulter. »Er wird ein wenig steif bleiben«, hatte der Tierarzt gesagt, als er ihn dort abgeholt hatte. »Und vielleicht wird es schlimmer, wenn er älter wird.«
Ulf stand mit leisem Stöhnen ebenfalls auf. Älter werden war nicht gut. Der Alkoholmissbrauch der letzten Wochen reizte seinen Magen, seine Leber vermutlich auch, aber die schmerzte nicht. Noch nicht. Er ging ins Bad und schaute im Vorbeigehen in den Spiegel über dem Waschbecken. Was er sah, entsprach dem Gefühl, das sich von seinem Magen aus über den Körper verbreitete.
Als er wieder in den Flur trat, fiel sein Blick auf den schwarzen Anzug in der Garderobe gleich hinter der Tür, den Maybrit ihm für die Trauerfeier gebracht hatte. Er war nicht hingegangen. Er hatte Beerdigungen und Trauerfeiern schon immer gehasst. Er musste niemandem zuhören, der salbungsvolle Worte über Caroline von sich gab. Er hatte sich von ihr auf seine Weise verabschiedet.
Björn hatte ihm erzählt, dass fast alle aus dem Dorf gekommen waren. Aber das taten sie immer. Thomas, der Mann aus Hamburg, den sie beinahe geheiratet hätte, war auch da gewesen. Ulf war froh, dass er ihm nicht begegnet war. Er wusste nicht, ob er nicht einen Streit vom Zaun gebrochen hätte. Andra hatte Thomas über Carolines Tod informiert. Die alte Frau aus Blekinge war ebenfalls angereist. Nach der Trauerfeier war sie zum Haus rausgefahren, zusammen mit Björn. Sie war immer klein und zierlich gewesen, inzwischen, mit siebenundachtzig, war sie nur mehr der Hauch eines Menschen, und doch war ihr Händedruck überraschend zupackend gewesen. Aus den
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