Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
hinter Ulfs Wortkargheit steckte. Er nahm Schwung und fuhr seinem alten Freund hinterher. Noch vor dem Lift holte er ihn ein und zwang ihn zum Anhalten. »Du hast heute Nacht bei Lilli übernachtet. War was zwischen euch? Habt ihr miteinander geschlafen?« Er war von der schnellen Abfahrt außer Atem und stieß die Worte heftiger hervor als geplant.
Ulf schob seine Skibrille nach oben. Sein Blick war kalt. »Sah es heute Morgen so aus?«
Björn antwortete nicht sofort. »Eher nicht«, räumte er schließlich ein. »Aber …«
Doch Ulf hatte die Brille bereits wieder aufgesetzt und war davongefahren. Nachdenklich blieb Björn zurück und fragte sich, ob er mit Caroline sprechen sollte. Sie hatte ihm nichts von der Tochter erzählt. Vielleicht aus gutem Grund. Er stützte sich auf seine Skistöcke, während er ins Tal hinabblickte. Was für eine Tragödie. Vermutlich war es das Beste, sich nicht ungefragt einzumischen. Es war so schon schlimm genug.
11.
C aroline beobachtete, wie die Sonne hinter einer der großen Wolken hervorbrach und die Konturen der weichen runden Bergkuppen schärfte, die sich wie Stein gewordene Wellen bis an den Horizont zogen. Irgendwo dort, gar nicht weit entfernt, lag Norwegen. Das Land, in dem sie damals Zuflucht gefunden und am Ende eines dunklen, kalten Winters Lianne zur Welt gebracht hatte. Es hatte nur das Meer gegeben, den Wind und hohe schroffe Felsen. Und die Seevögel, die beständig geschrien hatten. Der Fischer, der sie aufgelesen hatte wie eine streunende Katze, war ein einfacher, ehrlicher Mann gewesen. Er hatte seine Frau an ein Fieber verloren und war froh, dass sie da war, für ihn kochte und seine Wäsche wusch. Als Lianne geboren wurde, war er auf dem Meer gewesen, eine Nachbarin hatte ihr zur Seite gestanden, doch als er zurückgekommen war, hatte er das Neugeborene mit seinen von den Netzen und dem Salzwasser rauhen Händen hochgenommen und lächelnd im Arm gehalten. Er hatte nie gefragt, woher sie kam, noch wer der Vater ihres Kindes war. Kräftig und blond war er gewesen, und wenn der Schmerz um den Verlust seiner Frau zu groß wurde, hatte er sich betrunken. Er hatte dabei am Ofen gesessen und ein Glas nach dem anderen von dem klaren selbstgebrannten Schnaps in sich hineingekippt, bis ihm die Augen zugefallen waren. Am nächsten Morgen war er in der Dunkelheit erneut aufgebrochen hinaus aufs Meer, egal wie das Wetter war. Obwohl Caroline Ulf in jenem Winter jeden Tag, jede Stunde, jede Minute vermisst hatte, war mit dem Frühling auch der Morgen gekommen, an dem sie das erste Mal Angst verspürt hatte, als sie dem Boot nachgesehen hatte, das auf den grauen, schaumgekrönten Wellen tanzte. Am selben Tag noch hatte sie den Fischer verlassen, und wie es seine Art war, hatte er lediglich still genickt, als sie ihm sagte, dass sie gehen würde, und sie hatte erneut vor dem Nichts gestanden.
Das Surren des Ankerlifts hinter ihr und das singende Auf und Ab schwedischer Stimmen brachte sie jäh in die Gegenwart zurück. Es war Mittag, und die meisten Wintersportler saßen bereits im Gasthof an der Liftstation, wo auch sie nach dieser Abfahrt mit Björn und Ulf verabredet war.
Sie scheute die erneute Begegnung mit Ulf, doch die Männer würden sich sorgen, wenn sie nicht kam. Nach der Nähe des vorangegangenen Abends war das Schweigen, in das Ulf sich geflüchtet hatte, schwer zu ertragen, die Ablehnung, die sie darin zu spüren meinte. Sie hatte ihn um seine Tochter betrogen. War es das, was er fühlte, aber nicht zu sagen wagte? Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht mehr deuten. Früher hätte er getobt, sie angeschrien, ihr Vorwürfe gemacht. Sie kannte das von Lianne, die den Jähzorn ihres Urgroßvaters und ihres Vaters geerbt hatte. Oft hatte sie nach Ulfs Wesenszügen in Lianne gesucht, aber erst jetzt, nachdem sie ihn wiedergesehen hatte, erkannte sie, wie viel tatsächlich von ihm in seiner Tochter gelebt hatte. Die Art, wie er den Kopf hielt, wenn er lachte. Das Lachen selbst. Das auffällige Schmalwerden der Lippen, wenn ihm etwas nicht gefiel. Es hatte sie Lianne umso mehr vermissen lassen und ihr Ulf gleichzeitig nähergebracht, als er ihr jemals gewesen war.
Seufzend stieß sie sich ab, spürte den Schnee unter den Skiern, nahm Tempo auf und wedelte elegant den Berg hinunter. Björn hatte recht gehabt, nach einer kurzen Eingewöhnungsphase fuhr sie so routiniert wie früher. Die Bäume flogen an ihr vorbei, sie überholte zwei Snowboarder, die vor einer
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