Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
wurde ihr in vollem Umfang bewusst.
Sie schluckte. »Ich … ich wollte dich nicht wecken.« Sie rieb sich ihre kalten Fußsohlen an den Waden.
»Ich habe nicht geschlafen«, sagte er.
»Ja … ich weiß …«, gab sie leise zu.
3.
I n seinem Büro im Stockholmer Polizeipräsidium reckte sich Ulf Svensson und schaltete den Computer aus. Es war ein langer Tag gewesen, und er fühlte sich müde und ausgelaugt. An solchen Abenden sehnte er sich seit einiger Zeit immer häufiger nach dem Norden, besonders im Winter, der in der schwedischen Hauptstadt alles andere als reizvoll war. Er war seit Jahren nicht in Härjedalen gewesen, einer Region im südlichen Jämtland nahe der norwegischen Grenze. Die letzten Winter hatte er seine Urlaube in Österreich verbracht, in der Schweiz und sogar in Frankreich. Die Berge waren dort steiler, die Pisten aufregender, aber etwas fehlte ihm. »Du bist eben Skandinavier«, hatte ein Kollege aus dem Wallis einmal schulterzuckend gesagt, als Ulf es erwähnt hatte. »Ihr seid anders.« Waren sie das wirklich?
Er warf einen Blick auf seine großgewachsene schlanke Silhouette in der Fensterfront. Dann sah er hinaus über die Stadt. In der Dunkelheit waren die Straßen lichtgesäumte Bänder, und die Gebäude in diesem Teil Stockholms schimmerten wie wartende Raumschiffe bereit zum Start. Er hatte wenig Lust, nach Hause zu fahren. Seit zwei Tagen gab es Probleme mit der Heizung in seiner Altbauwohnung in der Götgatan im Stockholmer Stadtteil Södermalm. Morgens war es so kalt in der Wohnung gewesen, dass die Scheiben sogar von innen gefroren waren, weswegen er mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, in dieser Nacht im Büro zu schlafen. Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne und ließ sein Smartphone in die Tasche gleiten. Jetzt würde er erst einmal auf ein Bier hinunter zu Stefan in seine Stammkneipe gehen und dann entscheiden, wie es weiterging an diesem Abend.
In dem weitläufigen Großraumbüro nebenan war Schichtwechsel. Durch die verglasten Wände verfolgte Ulf, wie sich die Kollegen begrüßten und über Neuigkeiten in Kenntnis setzten. Er wollte gerade das Licht ausschalten, als sich das Faxgerät in der Ecke meldete. Der Apparat spuckte zwei Blätter aus. Ulf warf einen Blick darauf und unterdrückte einen Fluch. Seit die zentrale Verkehrsaufsicht vor zwei Wochen eine neue Telefonanlage bekommen hatte, erhielt er auf seinem Faxgerät ständig Anfragen zur Identitätsfeststellung ausländischer Verkehrssünder. Er griff zum Telefon. »Ulf Svensson, Mordkommission«, meldete er sich. »Wie ich sehe, habt ihr die Nummer in eurem Kurzwahlspeicher noch immer nicht geändert.«
Der Mitarbeiter am anderen Ende räusperte sich. »Wir haben noch Probleme mit der Programmierung, aber ich kümmere mich drum«, entschuldigte er sich. »Morgen kommt ein Techniker der Servicefirma.«
»Das ist gut, denn es ist das letzte Mal, dass ich deswegen anrufe«, entgegnete Ulf unbeeindruckt. »Künftig werden eure Anfragen kommentarlos in meinem Papierkorb landen, dann könnt ihr sehen, wo ihr euer Geld herkriegt.« Er legte auf, griff nach dem Faxausdruck und wollte ihn gerade im Papierkorb versenken, als sein Blick auf das Radarfoto auf dem zweiten Blatt fiel: eine Frau, Mitte bis Ende vierzig, halblanges blondes Haar, durchaus attraktiv. Er runzelte die Stirn. Sie erinnerte ihn an jemanden, aber er wusste nicht, an wen. Er hatte tagtäglich mit vielen Menschen zu tun, und Gesichter waren nie seine Stärke gewesen.
»Hej, Ulf, ist deine Heizung immer noch kaputt, oder warum bist du noch hier?«, rief ihm ein untersetzter bärtiger Drogenfahnder nach, als er das Großraumbüro durchquerte.
Ulf grinste unwillkürlich. »Reiner Arbeitseifer, Bent, das kennst du gar nicht, oder? Aber jetzt geht es runter zu Stefan.«
»Nach zehn Bieren und ein paar Schnäpsen ist es ohnehin egal, ob die Heizung funktioniert«, erwiderte Bent augenzwinkernd.
»Na, du findest doch sicher jemanden, der dich aufnimmt und wärmt, oder?«, warf eine der Frauen in das allgemeine Gelächter ein.
»Ich tu mein Bestes«, gab Ulf zurück. Er war bekannt dafür, dass er in dieser Hinsicht selten eine Gelegenheit ausließ. Allerdings war es noch keiner seiner Bettgenossinnen gelungen, ihn längerfristig an sich zu binden. Es gab Gerüchte über das Warum und Wieso wie in jeder großen Firma, aber seit zwanzig Jahren prallten sie an Ulfs souveränem Lächeln ab.
Er betrat den Fahrstuhl, drückte die Taste für das
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