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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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unwillkürlich, ob sie sich jene Unberechenbarkeit bewahrt hatte, die ihn damals so fasziniert hatte.
    Hätte er Håkan davon erzählen sollen?
    Håkan, der seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet war? Ulf ging im Haus der Bergströms ein und aus und war mit Håkans Frau Mette fast ebenso gut befreundet wie mit seinem Kollegen. Er stellte jedoch immer wieder fest, dass die beiden in einer anderen Welt lebten.
    Er schloss einen Moment die Augen und spürte die Müdigkeit, die hinter der Fassade aus Koffein und Aspirin lauerte. Bei den winterlichen Wetterverhältnissen musste er mit sechs Stunden Fahrt bis nach Sveg rechnen. Er warf einen Blick auf die Uhr am Herd. Es war erst halb zehn Uhr morgens, und Håkan hatte natürlich recht. Ulfs Blutalkoholspiegel war nach dem Exzess der letzten Nacht noch nicht auf einen mit dem Straßenverkehr zu vereinbarenden Wert gesunken. Kurzentschlossen stand er auf und ging ins Schlafzimmer, wo er sich auf das Bett fallen ließ, nachdem er den Wecker seines Handys auf drei Uhr gestellt hatte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war er eingeschlafen. Und natürlich träumte er von ihr. Wie hätte es auch anders sein können.
    *
    Er fuhr die E4 an der Küste entlang Richtung Norden bis kurz hinter Gävle und bog dann nach Westen ins tief verschneite Landesinnere ab. Sobald er die Autobahn verlassen hatte, dünnte der Verkehr aus. Die Straßen wurden schmaler, und die Bäume standen dichter. Der Himmel war sternenklar, und die Temperaturanzeige seines Wagens sank auf minus dreiundzwanzig Grad.
    Was er tat, war völlig irrational. Niemand wusste das besser als Ulf selbst. Sie konnte überall hingefahren sein. Warum ausgerechnet nach Härjedalen? Er war einfach losgerast, einem Bauchgefühl folgend, dabei wusste er nicht einmal, was sie in den vergangenen drei Jahrzehnten gemacht hatte. »Es ist egal«, sagte er laut in die Nacht hinein. »Ich wollte sowieso hinfahren.«
    Der Zeitpunkt war so gut wie jeder andere.

    Die Strecke war voller vertrauter Landmarken. Selbst in der Dunkelheit machte er die Gehöfte, Brücken und Wegkreuzungen aus, und sein Gehirn assoziierte selbständig die Bilder der dazugehörigen Flüsse und Täler. Diese karge, bisweilen erdrückende Weite der nordischen Landschaft hatte in ihm von jeher widerstreitende Gefühle ausgelöst. In dieser Einöde mit ihrer überwältigenden Einsamkeit und Stille war er aufgewachsen, und er vermisste sie oft schmerzlich in seinem Stockholmer Alltag. Doch er wusste auch um den Preis, den diese Abgeschiedenheit forderte, und in welche Abhängigkeiten die Kälte und Dunkelheit der langen Winter einen Menschen bringen konnten.

    Wie eine Insel aus Licht tauchte vor ihm eine Tankstelle in der Nacht auf. Die Neonreklame erhellte die nähere Umgebung in strahlendem Gelb, und als Ulf an einer der Zapfsäulen hielt, fiel sein Blick durch die Glasfront des großen Verkaufsshops auf lange Regalreihen. Die Zeiten, in denen es an Tankstellen lediglich Getränke, Zigaretten und Zeitungen gegeben hatte, waren lange vorbei. Direkt neben dem Eingang war sogar ein Drehständer mit Winterbekleidung plaziert. Hinter dem Gebäude lud ein Motel mit Sonderangeboten in Leuchtschrift zum Übernachten ein.
    In seiner Jugend hatte es hier nur zwei Zapfsäulen gegeben und ein winzig kleines Lädchen, in dem lediglich ein wenig Autozubehör zu kaufen gewesen war. An der Ausfahrt hatte während der Sommermonate ein Karren gestanden mit Obst, Gemüse und Eiern von dem dahinter liegenden Gehöft, das nun das Motel beherbergte.
    Der Umbau vor gut zehn Jahren hatte die lokale Presse mangels anderer Themen über einen längeren Zeitraum beschäftigt, was wiederum die großen überregionalen Blätter zu Glossen in ihren Feuilletons inspiriert und dieser Tankstelle mitten im Nirgendwo eine zeitweilige und durchaus fragwürdige Berühmtheit verschafft hatte. Der Betrieb florierte ungeachtet des nachgelassenen Medieninteresses, und insbesondere während der Urlaubssaison im Sommer war das Motel zu Beginn der Wochenenden oft ausgebucht von Stockholmern, die Richtung Nordschweden unterwegs waren.
    Jetzt lag das große Gebäude weitgehend im Dunkeln, nur aus ein paar Fenstern im Erdgeschoss fiel Licht. Ulf starrte gedankenverloren darauf, als er seinen Tank füllte, während die beißende Kälte durch seine dicken Handschuhe kroch und seine Finger lähmte. Er verband mit diesem Ort eine seiner furchtbarsten Erinnerungen. Jahrelang hatte er die Stelle gemieden, wie man den

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