Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
entblößt sie sich gefühlt haben muss. Frierend und verängstigt ist sie in hochhackigen Pumps gegangen, ist gestolpert und gestürzt. Sie hat sich die Haut an Brombeersträuchern aufgekratzt. Irgendjemand hat ihr Anweisungen gegeben und sie von dem Parkplatz weg dirigiert.
In den Gräben türmt sich Herbstlaub wie Schneeverwehungen, und der Wind weht Tropfen von den Ästen. Dies ist ein uralter Wald, und das riecht man; feuchte Erde, verrottende Baumstämme und modernde Blätter, eine Kavalkade von Gerüchen. Hin und wieder kann ich zwischen den Bäumen einen Gitterzaun ausmachen, der ein Grundstück begrenzt. Dahinter schimmern vereinzelt Hausdächer durch.
Während der Unruhen in Irland hat die IRA häufig unterirdische Waffendepots in der offenen Landschaft angelegt und
dabei die Sichtlinien zwischen drei Landmarken als Markierung für die ansonsten nicht gekennzeichneten Lager benutzt. Britische Patrouillen auf der Suche nach diesen Waffendepots lernten die Landschaft lesen und augenfällige Punkte erkennen. Es konnte ein andersfarbiger Baum, ein Steinhügel oder ein schiefer Zaunpfahl sein.
Ich merke, dass ich das Gleiche tue - ich suche nach Bezugspunkten oder psychologischen Markierungen, die auf Christine Wheelers letzten Weg hindeuten. Ich zücke mein Handy und überprüfe den Empfang. Drei Balken. Stark genug.
»Sie hat diesen Weg genommen.«
»Was macht dich so sicher?«, fragt Ruiz.
»Er ist ungeschützter. Er wollte sie sehen können. Und er wollte, dass sie gesehen wird.«
»Warum?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
Die meisten Verbrechen sind Zufall - eine Verkettung von Umständen. Ein paar Minuten oder ein paar Meter mehr oder weniger, und es wäre nie geschehen. Diese Tat ist anders. Der Täter kannte Christine Wheelers Telefonnummern und wusste, wo sie wohnte. Er hat sie angewiesen hierherzukommen. Er hat bestimmt, welche Schuhe sie trug.
Wie? Woher kanntest du sie?
Du musst sie irgendwo schon einmal gesehen haben. Vielleicht trug sie da rote Schuhe.
Warum hast du sie hierhergeführt?
Du wolltest, dass sie gesehen wird, aber dieser Weg ist zu offen, zu öffentlich. Jemand hätte sie aufhalten oder die Polizei rufen können. Selbst an einem stürmischen Tag wie Freitag waren hier Menschen unterwegs. Wenn du sie wirklich hättest isolieren wollen, hättest du praktisch jeden Ort wählen können. Irgendwo abgeschieden, wo du mehr Zeit gehabt hättest.
Aber anstatt sie im Stillen zu ermorden, hast du es in aller Öffentlichkeit getan. Du hast ihr befohlen, auf die Brücke zu
gehen und über den Zaun zu klettern. Diese Art von Kontrolle über einen anderen Menschen ist geradezu irre, unfassbar.
Christine hat sich nicht gewehrt. Unter ihren Fingernägeln hat man keine Hautpartikel gefunden, an ihrem Körper keine Blutergüsse. Du musstest keine Fesseln oder körperliche Gewalt anwenden, um sie zu bändigen. Niemand hat dich mit Christine Wheeler im Wagen gesehen. Keiner der Zeugen hat eine Person in ihrer Begleitung erwähnt. Du musst auf sie gewartet haben; irgendwo, wo du dich sicher gefühlt hast - in einem Versteck.
Ruiz ist stehen geblieben und wartet auf mich. Ich gehe an ihm vorbei, verlasse den befestigten Weg und erklimme eine kleine Anhöhe. Auf der Kuppe stehen drei Bäume. Man hat einen unverstellten Blick auf die Avon Gorge. Ich knie mich ins Gras und spüre, wie die Feuchtigkeit des Bodens an Knien und Ellbogen durch meine Hosenbeine und Mantelärmel sickert. Man kann den Weg über hundert Meter in beide Richtungen überblicken. Es ist ein gutes Versteck, ein Ort für unschuldige Liebespaare oder kriminelle Stalker.
Plötzlich bricht die Sonne durch die rasch am Himmel dahintreibenden Wolken. Ruiz ist mir auf die Anhöhe gefolgt.
»Jemand hat von hier aus Menschen beobachtet«, erkläre ich ihm. »Siehst du das niedergedrückte Gras? Jemand hat auf dem Bauch gelegen und sich mit den Ellbogen hier aufgestützt.«
Beim Reden wird mein Blick von einem Stück gelbem Plastik angezogen, das ein Dutzend Meter entfernt in einem Brombeergestrüpp hängt. Ich erhebe mich, gehe hinüber und beuge mich über die dornigen Zweige, bis ich einen Fetzen von einem Plastikregenmantel in der Hand halte.
Ruiz atmet leise pfeifend aus. »Du bist ein Freak. Das weißt du.«
Der Motor läuft. Die Heizung ist voll aufgedreht. Ich versuche, meine Hose zu trocknen.
»Wir sollten die Polizei anrufen«, sage ich.
»Und was wollen wir denen sagen?«, entgegnet Ruiz.
»Wir erzählen
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