Deine Juliet
Mitte Juni so gut wie sicher war, dass es uns an den Kragen ging, telefonierte das Parlament mit London und bat, Schiffe zu schicken, um unsere Kinder nach England zu holen. Sie konnten nicht fliegen aus Angst, von der deutschen Luftwaffe abgeschossen zu werden. London sagte ja, aber die Kinder müssten sofort abfahrbereit sein. Die Schiffe würden schnellstens hierher- und wieder zurückfahren müssen, solange noch Zeit war. Es war so eine verzweifelte Zeit für die Menschen hier, und alle riefen ständig «Beeilung, Beeilung».
Jane hatte damals nicht mehr Kraft als eine Katze, aber sie wusste, was sie wollte. Sie wollte, dass Eli fortging. Andere Frauen schwankten – sollte man die Kinder hierbehalten oder sie fortschicken? – und wollten es unbedingt mit ihr besprechen, aber Jane bat Elizabeth, sie von ihr fernzuhalten. «Ich will ihr aufgeregtes Gerede nicht hören», sagte sie. «Das ist schlecht für das Baby.» Jane hatte das Gefühl, dass Babys alles mitbekamen, was um sie herum vorging, sogar schon, bevor sie geboren wurden.
Die Zeit des Schwankens war bald vorbei. Die Familienhatten einen Tag Zeit, um sich zu entscheiden, und fünf Jahre, um sich in ihr Schicksal zu fügen. Schulkinder und Mütter mit Säuglingen gingen als Erste, am 19. und am 20. Juni. Das Parlament gab den Kleinen ein Taschengeld, wenn die Eltern es nicht aufbringen konnten. Die kleinsten Kinder waren ganz aufgeregt, weil sie sich damit Süßigkeiten kaufen konnten. Manche dachten, es sei so etwas wie ein Sonntagsschulausflug und sie würden bei Einbruch der Dunkelheit zurück sein. Das war ein Glück für sie. Die älteren Kinder wie Eli wussten es besser.
Ein Bild, das ich am Tag ihrer Abreise gesehen habe, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Zwei kleine Mädchen, fein herausgeputzt in rosa Festtagskleidchen mit steifen Unterröcken und glänzenden Lackschuhen – als dächte ihre Mama, sie gingen auf eine Feier. Wie sie gefroren haben müssen beim Überqueren des Kanals.
Alle Kinder mussten von ihren Eltern zu ihrem Schulhof gebracht werden. Dort mussten wir uns verabschieden. Omnibusse brachten die Kinder zum Anleger. Die Schiffe, eben erst aus Dünkirchen zurück, hatten sogleich gewendet und den Kanal abermals überquert, um die Kinder abzuholen. Es blieb keine Zeit, einen Geleitschutz für sie zusammenzubekommen. Es blieb keine Zeit, genügend Rettungsboote an Bord zu schaffen – oder Schwimmwesten.
An jenem Morgen gingen wir zuerst ins Krankenhaus, damit Eli seiner Mutter Lebewohl sagte. Er konnte es nicht. Er hatte den Mund so fest zusammengekniffen, dass er nur nicken konnte. Jane drückte ihn eine kleine Weile an sich, dann brachten Elizabeth und ich ihn zum Schulhof. Ich umarmte ihn fest, und danach habe ich ihn fünf Jahre lang nicht gesehen. Elizabeth blieb dort, weil sie sich erboten hatte, den Kindern drinnen dabei zu helfen, sich fertig zu machen.
Auf dem Rückweg zu Jane ins Krankenhaus fiel mir etwas ein, das Eli einmal zu mir gesagt hatte. Er war ungefähr fünf Jahre alt, und wir gingen nach La Courbrie, um die Fischerbooteeinlaufen zu sehen. Mitten auf dem Weg lag ein alter Schuh aus Segeltuch. Eli ging um den Schuh herum und sah ihn sich an. Schließlich sagte er: «Der Schuh ist ganz allein, Opa.» Ich antwortete: Ja, das sei er. Er sah ihn sich noch ein bisschen an, dann gingen wir weiter. Nach einem Weilchen sagte er: «Opa, das bin ich nie.» Ich fragte ihn: «Was meinst du?», und er sagte: «Ich fühle mich nie allein.»
Da! Ich hatte Jane trotz allem etwas Erfreuliches zu erzählen, und ich betete, dass es für ihn immer wahr bleiben möge.
Isola sagt, sie möchte Ihnen selbst schreiben, was sich in der Schule zugetragen hat. Sie sagt, sie war Zeugin eines Vorfalls, von dem Sie als Schriftstellerin werden wissen wollen: Elizabeth hat Adelaide Addison ins Gesicht geschlagen und sie hinausgeworfen. Sie kennen Miss Addison nicht, und da können Sie von Glück sagen – die Frau ist unausstehlich.
Isola sagt, Sie kommen uns vielleicht auf Guernsey besuchen. Es wäre mir eine Freude, Ihnen meine und Elis Gastfreundschaft anzubieten.
Ihr Freund
Eben
Telegramm von Juliet an Isola
Hat Elizabeth Adelaide tatsächlich geohrfeigt? Wäre ich nur dabei gewesen! Bitte um nähere Einzelheiten.– Juliet
Isola an Juliet
24. April 1946
Liebe Juliet,
ja, das hat sie getan – sie hat sie mitten ins Gesicht geschlagen. Es war herrlich.
Wir waren in der St.-Claire-Schule, um den Kindern zu helfen,
Weitere Kostenlose Bücher