Deine Juliet
dahin über die Wohnung verfügen kann. Ich hätte gerne einen Hund, aber die Hausverwaltung erlaubt keine Haustiere! Die Kensington Gardens sind nicht sehr weit von hier, und wenn ich mich eingesperrt fühle, kann ich in den Park schlendern, mir für einen Shilling einen Liegestuhl nehmen, mich unter den Bäumen lümmeln, die Passanten beobachten, den Kindern beim Spielen zusehen, und dann bin ich beruhigt – ein wenig.
Oakley Street Nr. 81 wurde vor einem Jahr von einer V1 getroffen. Drei Etagen (eine davon war meine) wurden weggemäht, und Nummer 81 ist jetzt nur noch ein Schutthaufen. Ich hoffe, dass Mr. Grant, der Besitzer, es wieder aufbaut – ich möchte meine Wohnung oder eine Nachbildung davon wiederhaben, genau so, wie sie war, mit Cheyne Walk vor meinen Fenstern und dem Fluss.
Zum Glück war ich in Bury, als die V1 fiel. Sidney Stark, ein Freund und inzwischen auch mein Verleger, holte mich an jenem Abend vom Zug ab und brachte mich nach Hause, und wir sahen den riesengroßen Schutthaufen und guckten uns an, was vom Haus noch stand.
Ein Teil der Mauer war weg, und ich konnte meine zerfetzten Vorhänge im Wind wehen sehen und meinen Schreibtisch, dernur noch drei Beine hatte und auf das schiefe Stück Fußboden gesackt war, das übrig geblieben war. Meine Bücher waren ein schmutziger, durchweichter Haufen. Ich konnte das Bildnis meiner Mutter, halb aus dem Rahmen gedrückt und ganz schwarz, an der Wand sehen, aber es gab keine ungefährliche Möglichkeit, es zu retten. Der einzige unbeschädigt gebliebene Gegenstand aus meinem Besitz war mein großer kristallener Briefbeschwerer, auf dessen Oberseite
carpe diem
eingraviert ist. Er hatte meinem Vater gehört, und da lag er, unversehrt auf einem Haufen kaputter Ziegelsteine und zersplittertem Holz. Ich brauchte ihn unbedingt, und da ist Sidney über den Schutt geklettert und hat ihn mir geholt.
Ich war ein ganz liebes Kind, bis meine Eltern starben, als ich zwölf war. Da verließ ich unseren Bauernhof in Suffolk und lebte bei meinem Großonkel in London. Ich war ein aufbrausendes, verbittertes, mürrisches Mädchen. Ich bin zweimal ausgerissen und habe meinem Onkel dadurch unendlich viel Kummer bereitet – und damals tat ich dies mit Freuden. Heute schäme ich mich, wenn ich daran denke, wie ich ihn behandelt habe. Er starb, als ich siebzehn war, sodass ich ihn nie um Verzeihung bitten konnte.
Nach einem Jahr beschloss mein Onkel, mich in ein Internat zu schicken. Ich ging hin, störrisch wie immer, und die Direktorin marschierte mit mir in den Speisesaal. Sie führte mich an einen Tisch mit vier anderen Mädchen. Ich setzte mich, die Arme verschränkt, die Hände unter den Achselhöhlen, und sah mich böse funkelnd wie ein mausernder Adler nach jemandem um, den ich hassen konnte. Mein Blick fiel auf Sophie Stark, Sidneys jüngere Schwester.
Sie war genau die Richtige. Sie hatte goldblonde Locken, große blaue Augen und ein sehr, sehr süßes Lächeln. Sie gab sich alle Mühe, mit mir zu sprechen. Ich antwortete nicht, bis sie sagte: «Ich hoffe, du wirst glücklich hier bei uns.» Ich erklärte ihr, dass ich nicht lange genug bleiben würde, um es herauszufinden.«Sobald ich weiß, wie die Züge fahren, bin ich hier weg!», sagte ich.
Noch in derselben Nacht stieg ich auf das Dach des Schlafsaals, in der Absicht, dort zu sitzen und im Finstern vor mich hin zu brüten. Ein paar Minuten später kam Sophie heraufgeklettert – mit einem Eisenbahnfahrplan für mich.
Ich bin natürlich nicht davongelaufen. Ich blieb – mit Sophie als meiner besten Freundin. Ihre Mutter lud mich oft zum Ende der großen Ferien in ihr Haus ein, und dort lernte ich Sidney kennen. Er war zehn Jahre älter als ich und natürlich ein junger Gott. Später verwandelte er sich in einen herrischen älteren Bruder und noch später in einen meiner liebsten Freunde.
Sophie und ich verließen die Schule, und weil wir nichts mehr vom akademischen Leben wissen, sondern das LEBEN selbst erfahren wollten, zogen wir nach London in eine gemeinsame Bleibe, die Sidney uns besorgt hatte. Wir arbeiteten eine Weile zusammen in einer Buchhandlung, und abends schrieb ich Geschichten – und warf sie in den Papierkorb.
Dann schrieb der
Daily Mirror
einen Essay-Wettbewerb aus – fünfhundert Wörter über das Thema «Wovor Frauen sich am meisten fürchten». Ich wusste, worauf der
Mirror
hinauswollte, aber ich fürchte mich viel mehr vor Hühnern als vor Männern, also schrieb ich
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