Deine Juliet
musste. Er besaß eine große Gabe für Zuneigung und Mitgefühl, an die keiner seiner großartigen Freunde heranreichen konnte. Als Wordsworth ihn schalt, weil er sich nicht genug aus der Natur mache, schrieb Charles: «Ich kann mich für Gehölze und Täler nicht erwärmen. Die Räume, worin ich geboren, die Möbel, welche ich mein Leben lang vor Augen gehabt, ein Bücherschrank, welcher mir folgte wie ein treuer Hund, wohin es mich immer zog – alte Stühle, alte Straßen, Plätze, allwo ich mich gesonnt, mein altes Schulhaus –, habe ich nicht genügend ohne Deine Berge? Ich beneide Dich nicht. Du solltest mich dauern, wüsste ich nicht, dass das Gemüt sich mit jedwedem Ding befreunden kann.» Ein Gemüt, das sich mit jedwedem Ding befreunden kann – daran habe ich während des Krieges oft gedacht.
Durch Zufall stieß ich heute auf eine andere Geschichte über ihn. Er trank häufig zu viel, viel zu viel, war aber kein mürrischerTrinker. Einmal musste der Diener seines Gastgebers ihn im Feuerwehrgriff geschultert nach Hause tragen. Tags darauf schrieb Charles seinem Gastgeber einen dermaßen fidelen Entschuldigungsbrief, dass der Mann diesen testamentarisch seinem Sohn vermachte. Ich hoffe, Charles hat dem Diener ebenfalls geschrieben.
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass, wenn man auf jemand bis dato Unbekannten aufmerksam gemacht oder von ihm angezogen wird, der Name dieses Menschen plötzlich überall auftaucht, wohin man auch kommt? Meine Freundin Sophie nennt das Zufall, Hochwürden Simpless nennt es Gnade. Er meint, wenn einem jemand oder etwas Neues sehr am Herzen liegt, sendet man eine innere Kraft in die Welt und lockt damit «Fruchtbarkeit» an.
Herzliche Grüße,
Ihre Juliet
Isola an Juliet
18. April 1946
Liebe Juliet,
nun, da wir Brieffreundinnen geworden sind, möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen – höchst persönlicher Art. Dawsey meint, das sei unhöflich, aber ich sage, es gibt einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, zwischen unhöflich und ungehobelt. Dawsey hat mir in fünfzehn Jahren nie eine persönliche Frage gestellt. Würde er es tun, ließe ich es mir gerne gefallen, aber Dawsey ist sehr zurückhaltend. Ich rechne nicht damit, ihn zu ändern, und mich ebenso wenig. Da Ihnen daran liegt, uns kennenzulernen, vermute ich, dass Sie auch möchten, dass wirSie kennenlernen – nur sind Sie zufällig nicht als Erste darauf gekommen.
Zuallererst – ich habe Ihre Fotografie auf dem Schutzumschlag Ihres Buches über Anne Brontë gesehen, daher weiß ich, dass Sie unter vierzig Jahre alt sind – wie viel darunter? Schien Ihnen die Sonne in die Augen, oder schielen Sie? Ist es dauerhaft? Es muss ein windiger Tag gewesen sein, weil Ihre Locken ganz zerzaust sind. Ich konnte Ihre Haarfarbe nicht richtig erkennen, nur so viel, dass Sie nicht blond sind, worüber ich froh bin. Ich kann Blondinen nicht besonders gut leiden.
Wohnen Sie am Fluss? Ich hoffe es, weil Menschen, die an fließendem Wasser leben, viel netter sind als solche, die keinen Fluss in der Nähe haben. Ich wäre bösartig wie eine Giftschlange, wenn ich im Landesinneren wohnen würde. Haben Sie einen ernstzunehmenden Verehrer? Ich nicht.
Ist Ihre Wohnung gemütlich oder elegant? Beschreiben Sie sie ausführlich, denn ich möchte mir ein Bild davon machen können. Meinen Sie, Sie würden uns gern auf Guernsey besuchen kommen? Haben Sie ein Haustier? Was für eins?
Immer Ihre
Isola
Juliet an Isola
21. April 1946
Liebe Isola,
es freut mich, dass Sie mehr über mich wissen möchten, und ich bedaure nur, dass es mir nicht selbst – und früher – eingefallen ist.
Zunächst zur Gegenwart: Ich bin zweiunddreißig Jahre alt,und Sie hatten recht – die Sonne schien mir in die Augen. Wenn ich gutgelaunt bin, nenne ich meine Haarfarbe kastanienbraun mit goldenem Schimmer. Bin ich schlechtgelaunt, nenne ich sie mausbraun. Es war kein windiger Tag, meine Haare sehen immer so aus. Naturlocken sind ein Fluch, das können Sie mir glauben. Ich habe haselnussbraune Augen. Ich bin schlank, wäre aber gerne etwas größer.
Ich wohne nicht mehr an der Themse, und das vermisse ich an meiner früheren Wohnung am meisten – ich habe den Anblick und das Geräusch des Flusses zu jeder Tages- und Nachtstunde geliebt. Ich lebe jetzt in einer sozusagen geliehenen Wohnung am Glebe Place. Sie ist klein und mit Möbeln vollgestopft. Der Besitzer kommt nicht vor November aus Amerika zurück, sodass ich bis
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