Deine Lippen, so kalt (German Edition)
lassen. Vielleicht ist vor langer Zeit jemand gestorben, den er geliebt hat. Vielleicht gibt es tatsächlich Leute, die das hier durchgemacht haben, ohne verrückt zu werden und dunkle Zauber um Mitternacht zu wirken.
»Ich denke, wir sind hier fertig, Wren. Geh nach Hause. Und nimm einen frischen Kaffee für deinen Freund da draußen mit, wenn du gehst.«
Ich habe nicht vor, ihm zu widersprechen. Ich bin sowieso noch viel zu geschockt, um ein Wort herauszubringen, und als ich Gabriel zehn Minuten später auf die Schulter klopfe, ist auch er überrascht, mich schon zu sehen.
»Du hättest reinkommen können, weißt du«, sage ich und wickle mir den Schal um den Hals. Der Wind bläst beißend und da ist kein Mond am Himmel, nur ein schwach funkelnder Teppich aus Sternen.
»Ich wollte nicht, dass du Ärger bekommst.«
Ich versuche die Wärme zu ignorieren, die trotz der Kälte meinen Nacken hochkriecht. Er flirtet mit mir, das lässt sich nicht leugnen. Und es fühlt sich gut an. Das lässt sich ebenfalls nicht leugnen.
Ein paar Minuten trinken wir schweigend unseren Kaffee, während wir am Buchladen und der Reinigung und dem Drogeriemarkt vorbeilaufen. Das Kino an der Ecke ist hell erleuchtet, und ich winke Nan Bernstein zu, die sich auf den Tresen des Kartenhäuschens stützt und mehr als gelangweilt aussieht.
»Eine Freundin?«, fragt Gabriel, als wir die Straße überqueren.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich kenne sie seit dem Kindergarten. Auf gewisse Weise ist das hier ein Dorf.«
»Ist mir schon aufgefallen.« Sein Tonfall ist trocken. »Ich habe eine Menge ›Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß‹-Warnungen bekommen, als ich gestern was über dich rausfinden wollte.«
Das überrascht mich. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, aber ich habe nicht viele Freunde, jedenfalls was die engen angeht. Aber Danny hatte sie und sie waren alle ziemlich loyal.
Ich schlucke den letzten Rest von meinem Kaffee runter und werfe den Becher in einen Mülleimer vor dem Videoverleih. »Was ist mit dir? Wo kommst du ursprünglich her?«
Trotz der Dunkelheit sehe ich, wie er die Lippen aufeinanderpresst. Sie bilden eine beinah waagerechte Linie. »Wir haben an vielen Orten gelebt«, sagt er schließlich. »Nirgendwo allzu lang.«
Es ist nicht fair, dass er so leicht in mich hineinblicken kann, während es den Anschein hat, als müsste ich eine vollkommen neue Sprache lernen, um in ihm zu lesen. Ich liebe meine Heimatstadt vielleicht nicht inbrünstig, aber sie ist das, was ich kenne, und obwohl ich nicht vorhabe, für immer hierzubleiben, ist sie mir vertraut und gibt mir Halt, und das ist irgendwie tröstlich. Ich habe Danny zwar erst in der Highschool kennengelernt, aber trotzdem hatten wir dieselben Erinnerungen an das leckere Eis von Hills im Sommer, Schlittenfahren im Park, die Memorial Day Parade mit den blankgeputzten Feuerwehrautos.
Es ist für mich nur schwer vorstellbar, wie es sein muss, in einem Dutzend Wohnungen gelebt zu haben, erst recht, wenn es sich um so schäbige kleine Appartements handelt, wie das, in dem Gabriel mit seiner Schwester wohnt. Selbst wenn alles um mich herum explodiert, weiß ich, dass ich nach Hause gehen kann, an einen Ort, der mir so vertraut ist wie mein eigenes Gesicht – wo der krumm gewachsene Weihnachtsbaum jedes Jahr in derselben Ecke steht und der Hahn im Badezimmer ständig tropft, und wo es auf dem Dachboden immer ein bisschen nach Lavendel und altem Pfeifentabak riechen wird.
»Ist es hier besser?«, frage ich, ohne darüber nachzudenken, und er dreht sich mit einem spontanen Lächeln zu mir um.
»Jetzt schon.«
Kapitel dreizehn
E s ist zu kalt, um draußen zu sitzen. Zumindest rede ich mir das ein, als Gabriel mich ein weiteres Mal zu seiner Wohnung hinaufführt. Olivia sei arbeiten, meint er, und sie würde es auch sonst nicht stören, und ich sage mir, dass wir nur reden werden, dass auf diese Weise allein mit ihm zu sein, nichts zu bedeuten hat.
Es fühlt sich trotzdem falsch an, als Gabriel die Wohnungstür aufschließt und ich in ihn hineinrenne, während er nach dem Lichtschalter tastet. Seine Sachen sind kalt, aber ich kann die Körperwärme darunter spüren, den kaum wahrnehmbaren Schlag seines Herzens, und ich bin kurz versucht, in dieser Stellung zu verharren, mein Gesicht zwischen seinen Schulterblättern zu vergraben und einfach loszuheulen. Und das ist so was von falsch.
Stattdessen stolpere ich von ihm weg und klammere mich an meinen
Weitere Kostenlose Bücher