Deine Lippen, so kalt (German Edition)
ist er es, der den Satz unbeendet lässt, und er blickt auf unsere verschränkten Hände, während er nachdenkt.
»Was?«, sage ich, als sein Schweigen zu lange andauert. »Was bedeutet es?«
»Du besitzt große Macht.« Seine Augen sind jetzt schiefergrau, dunkler, als ich sie je gesehen habe. »Ich kann sie in dir spüren und sie ist ungeheuer. Wirklich ungeheuer – und das ist ein wenig beängstigend. Meine Großmutter ist vor langer Zeit gestorben, aber meine Mom hat mir ein paar Geschichten über sie erzählt, und nach allem, was ich weiß, hätte sie niemals tun können, was du getan hast. Verstehst du?«
Das Nicht, dass sie es versucht hätte bleibt ungesagt.
Ich befreie meine Hand aus seiner und stehe auf, und obwohl ich plötzlich etwas wackelig auf den Beinen bin, tigere ich hin und her. »Diese Gabe ist nichts, worum ich gebeten hätte, Gabriel. Wir …« Es ist ein weiteres Geheimnis, vielleicht sogar das größere, aber er muss es erfahren, selbst wenn es sich anfühlt wie der furchtbarste Verrat von allen, es ihm zu offenbaren. »Die Frauen in meiner Familie können es alle. Zaubern, hexen, wie immer man es nennen will. Jede einzelne. Robin ist fast so weit. Und meine Mutter …«
Ich kann ihm nicht mehr verraten, noch nicht. Sogar das Wenige, das ich schon eingestanden habe, hat einen bitteren Nachgeschmack in meinem Mund hinterlassen. Ich habe noch nie etwas davon laut ausgesprochen, niemandem gegenüber, und jetzt weiß Gabriel alles; der Junge, den ich erst seit einer Woche kenne.
Dieser Junge, der mich ansieht, als wäre ich ein Rätsel, das er lösen möchte, und zwar eines, an dem er Spaß haben wird, egal, wie lange er dafür braucht.
Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber im Moment spielt es auch gar keine Rolle.
»Was ist mit deiner Mutter?«, fragt er und lehnt sich gespannt vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Seine Hände sind locker gefaltet, die langen, schlanken Finger eleganter als Dannys.
Schluss damit. Als spielte das eine Rolle.
»Sie hat nie mit mir darüber gesprochen.« Ich höre auf, herumzutigern und bleibe still stehen, lasse den Kopf nach vorne fallen. Ich bin so müde. Es klingt wahrscheinlich, als würde alles einfach so aus mir heraussprudeln, aber es fühlt sich eher an, als würde ich es Stück für Stück aus mir herauszerren. Jedes einzelne Stück ist schwer und sperrig, poltert gegen mein Herz und schrammt an ihm, während ich es ans Licht hole.
»Sie hat genauso viel Macht wie ich, aber sie weigert sich die meiste Zeit, sie zu benutzen. Und dass sie nicht mehr mit meiner Tante spricht, hat auch damit zu tun, glaube ich.«
»Und was ist passiert, als du deine Kräfte zum ersten Mal gespürt hast?« Gabriel runzelt die Stirn. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück.
»Sie hat es mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt, wenn man so will. Robin und ich haben sie beide unser ganzes Leben lang Dinge tun sehen, aber meistens mehr die Resultate davon, verstehst du?« Ich massiere mir die Schläfen, während ich überlege, wie ich es ihm erklären kann. »Sie macht es nicht wirklich vor unseren Augen, jedenfalls nicht oft, aber wenn etwas kaputtgeht, ist es plötzlich wieder ganz, oder das Feuer im Kamin brennt einen ganzen Nachmittag. Solche Dinge eben.«
»Also hast du nicht gewusst, was es bedeutet oder wie man es macht, sondern hast alles allein herausgefunden?« Er ist ebenfalls aufgesprungen, stiefelt an mir vorbei und einen Moment bin ich sicher, dass er aus der Wohnung stürmen und meine Mutter zur Rede stellen wird.
Aber er tigert auch bloß hin und her, die Hände zu Fäusten geballt.
»Es klingt schlimm, ich weiß«, beginne ich, und er verdreht die Augen.
»Schlimm? Es klingt verdammt grausam, wenn du mich fragst.«
Aus dem Nichts durchfährt mich der Drang, meine Mutter zu beschützen, eine elektrische Welle, die das Licht im Zimmer bläulich aufflammen lässt. Gabriel hält den Mund, aber ich sehe, dass es ihm nicht wirklich leid tut.
»Du kennst sie nicht.« Meine Stimme ist jetzt sehr kontrolliert, auch wenn ein Restfunken meiner Macht darin sprüht. »Du kennst uns nicht. Und hier geht es nicht darum, was sie mir beigebracht hat und was nicht. Es war ganz allein meine Idee, Danny zurückzuholen, und es ist ganz allein meine Aufgabe, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.«
Es tut weh, das zu sagen, als wäre Danny ein Sack Müll, der raus an die Straße gestellt werden muss. Trotzdem ist es wahr.
»Es tut mir
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