Deine Lippen, so kalt (German Edition)
ich mir ernsthaft überlegen, meine Tränendrüsen entfernen zu lassen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel geweint, und ich hasse, wie schwach und hilflos ich mich dadurch fühle. Es ist schlimm genug, dass meine Kräfte unkontrolliert aus mir herausschießen, ich will nicht auch noch ständig vor Tränen überfließen.
»Ich würde dich gerne nach Hause bringen, wenn wir hier fertig sind«, sagt Mari. Es klingt wie ein Vorschlag, aber ich weiß, dass es keiner ist.
»Was hat Mom dir erzählt?« Ich nehme meinen Becher in die Hand und blase darüber, nur damit ich Mari nicht ansehen muss.
»Um ehrlich zu sein, interessiert mich viel mehr, was du mir erzählen möchtest.«
Genau genommen gar nichts, aber so leicht werde ich auf keinen Fall davonkommen. Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, der immer noch etwas zu heiß ist, und fange an zu stammeln. »Es ist nichts«, bringe ich schließlich heraus. »Ich meine, schon klar, es ist nicht nichts, aber ich werde damit fertig. Und wie ich Mom gesagt habe, nehme ich keine Drogen, bin ich nicht schwanger und werde nicht von der Polizei gesucht, also …«
»Gut zu wissen.« Da ist dieser trockene Ton wieder, gepaart mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Komm schon, Wren, ich bin’s. Was ist los?«
Ich hasse, dass ich ihr nicht einfach alles erzählen kann. Aber ich könnte nicht ertragen, wie sie mich ansehen würde, wenn ich zugäbe, was ich getan habe. Soweit, wie sich Mom von ihren Kräften distanziert hat, so sehr feiert Mari im Gegenzug die ihren. Aber sie würde sie nie leichtfertig gebrauchen und sie würde niemals verstehen, dass ich meine benutzt habe, um jemanden von den Toten zurückzuholen, selbst wenn es sich bei demjenigen um Danny handelt.
»Ich bin ein bisschen durchgedreht«, beginne ich vorsichtig und werfe für den Fall, dass Trevor uns belauscht, einen Blick zum Tresen. Das tut er gerne, wenn er frustriert ist, weil ihm der passende Satz nicht einfallen will. »Nach der Sache mit Danny, meine ich. Und … ich habe jemand Neuen kennengelernt. Also waren die letzten Tage ein bisschen … seltsam.«
Es ist nicht annähernd die ganze Wahrheit, aber es ist ein Teil davon. Zuzugeben, dass Gabriel in den letzten Tagen eine Rolle gespielt hat, ist schwerer, als ich gedacht hatte. Es fühlt sich immer noch wie Verrat an.
Natürlich hat Trevor den saftigen Leckerbissen mitbekommen und sieht im gleichen Maße zufrieden aus wie Mari wehmütig.
»Oh, Schätzchen.« Sie greift wieder nach meiner Hand und drückt sie sanft. »Das muss schwer sein. Aber egal wie sehr du Danny geliebt hast, das Leben ist nicht mit siebzehn zu Ende. Und du hast eine weitere Chance verdient, jemanden zu finden. Mehr als eine, würde ich wetten.«
Ich wusste, dass es wie eine Erklärung für alles wirken würde, wenn ich zugebe, dass ich einen anderen Jungen mag, und ein Teil von mir verabscheut es, Gabriel auf diese Weise zu missbrauchen. Aber ich kann Mari nicht die ganze Wahrheit erzählen. Das ist selbstsüchtig, ich weiß, doch wenn es mir gelingt, alles wieder in Ordnung zu bringen, möchte ich nicht, dass sie jemals erfahren, welch himmelschreienden Mist ich gebaut habe.
Sie wissen alle, dass ich das Mädchen bin, das den heißen Herd anpackt und die Eier fallen lässt. Sie müssen nicht wissen, dass ich außerdem noch das Mädchen bin, das dachte, Liebe ginge mit einer Besitzurkunde einher, das beschloss zu versuchen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, damit sein eigenes Leben sich nicht mehr so leer anfühlte, egal, was das mit dem Jungen anstellen würde, den es liebte.
Mari wartet darauf, dass ich ihr zustimme, das sehe ich, also nicke ich. Ich fühle mich allmählich wie betäubt, dabei ist der Tag noch nicht annähernd vorbei. Langsam trinke ich meinen Kaffee. Je länger das Trinken dauert, desto länger dauert es auch, bis Mari mich nach Hause fährt, und das ist tröstlich. Sie war sehr verständnisvoll, doch ich bezweifle, dass Mom ihrem Beispiel folgen wird.
»Trevor, hast du noch ein paar von Geoffs Maple Cookies mit Zuckergussglasur?«, ruft Mari.
»Kann schon sein«, sagt er und zuckt mit den Schultern. Er macht es ihr gerne schwer, weil er es jedem gerne schwer macht, aber ich glaube, sie fasziniert ihn auch. Sie kommt schon länger her als ich – tatsächlich ist sie diejenige, die mir das Café gezeigt hat. Sie unterrichtet seit Jahren als Vorschullehrerin, aber nebenher hat sie schon immer andere Sachen gemacht – Schmuck
Weitere Kostenlose Bücher