Deine Schritte im Sand
Exils gleichgesetzt. Jetzt nähert sich der Festtag mit großen Schritten, aber nichts lässt auf unsere bevorstehende Abreise schließen. Es gibt nämlich eine weitere Komplikation: Azylis verweigert weiterhin das Fläschchen. Seit ihrer Verlegung in die Überwachungsstation bemühen wir uns, sie zum Saugen zu bewegen. Doch unsere Mühe ist umsonst. Sie schafft es nicht, mehr als ein paar Tropfen pro Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Die Ärzte haben klar Position bezogen: So lange Azylis von künstlicher Ernährung abhängig bleibt und nicht zunimmt, kann sie nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden. Trotzdem machen sie sich keine Sorgen und versichern uns, dass es sich allenfalls noch um einige Wochen, höchstens um einen Monat handeln kann. Aber so viel Zeit können wir nicht mehr aufbringen. Zumindest nicht in Marseille.
Unsere ausgeklügelte Organisation beginnt aus dem Ruder zu laufen und droht zusammenzubrechen. Chantal ist aus ihrem Sommerdomizil in den Bergen zurückgekehrt. Sie zeigt sich nach wie vor großzügig und hat uns eingeladen, so lange wie nötig zu bleiben, aber wir wollen ihr natürlich nicht zur Last fallen. Wir haben ihre Gastfreundschaft schon viel zu lange in Anspruch genommen.
Loïc kann nicht länger bei der Arbeit fehlen. Man erwartet ihn in wenigen Tagen in Paris zurück. Er kann seinen Aufenthalt in Marseille nicht unendlich verlängern. Und unsere Eltern und Großeltern haben auch noch andere Verpflichtungen. Das Gerüst, das unser anfälliges Lebenskonstrukt stützt, gerät ins Wanken.
Ich habe die Situation in meinem Kopf hin und her gewälzt, ehe ich mich den Tatsachen stellte. Uns bleibt keine große Wahl, wir müssen uns trennen. Die einfachste Lösung ist, dass Loïc mit Thérèse, Gaspard und Thaïs nach Paris zurückkehrt, während ich mit Azylis so lange in Marseille bleibe, wie es nötig ist. Für die verbleibende Zeit kann ich im Elternhaus unterkommen, das unmittelbar an die Klinik angrenzt, und sobald alles in Ordnung ist, kehren wir zum Rest der Familie zurück. Dieser Plan ist zwar physisch einfach umzusetzen, aber psychisch unmöglich.
Um stark zu sein, müssen wir zusammenbleiben. »Einer für alle, alle für einen.« Die Devise der Musketiere haben wir zu unserem Leitspruch erhoben. Vor allem während der vergangenen Wochen. Denn Thaïs’ Gesundheitszustand verschlechtert sich weiter. Manchmal nur ein kleines bisschen, kaum feststellbar, dann aber wieder mit großen Sprüngen. Keiner von uns brächte es fertig, sie allein zu lassen, selbst wenn es nur kurz wäre. Man weiß schließlich nie, was in dieser Zeitspanne passiert … Ein Monat bedeutet im Vergleich zu einem Leben eine kurze Zeit. Im Fall von Thaïs jedoch könnte dieser Monat aber ein sehr langer Teil ihres Lebens sein. Denn die Monate, die ihr noch bleiben, sind gezählt. Die Zeit drängt.
Wieder steht uns eine Schlacht bevor.
A UF NACH PARIS ! Seit heute Morgen wissen wir es: Wir werden alle gemeinsam nach Hause zurückkehren. Nach langen Diskussionen haben die Ärzte eingewilligt, Azylis früher zu entlassen. Die guten Untersuchungsergebnisse und einige Schlucke mit gewissem Appetit getrunkener Milch konnten sie überzeugen. Eine Klinik in Paris wird die Nachbehandlung übernehmen.
Im Nu sind unsere Koffer gepackt. Die administrativen Formalitäten sind erledigt, die letzten Empfehlungen der Ärzte, wie Azylis zu Hause zu behandeln ist, notiert. Unsere Zeit in Marseille neigt sich ihrem Ende entgegen.
Und dann sind wir auf dem Heimweg. Bewegt blättern wir eine Seite unseres Lebensbuches um. In Marseille lassen wir uns lieb gewordene Menschen und die Nähe einer neuen Familie zurück – es sind die uns vertraut gewordenen Krankenschwestern und andere Freunde. Vergangenheit ist der mit Pinien gesäumte Schulweg, vorbei die Sonne, die uns Körper und Seele wärmte, vorbei die Abendessen im Freien bei Kerzenlicht und Roséwein. Vorbei die in einem Liegesessel zusammengekauert verbrachten Nächte, die Tage mit Masken und Kitteln, Gaspards Ausflüge in den Garten, die Ankunft von Ticola, das erste Lallen von Azylis und die letzten Blicke von Thaïs; wir lassen eine Menge süßer und bitterer Erinnerungen zurück, Tage des Weinens und des Lachens. Und wir vergießen eine kleine Träne.
Aber Paris erwartet uns mit offenen Armen. Wir freuen uns auf unsere Wohnung, auf alles, was uns vertraut ist, unsere Gewohnheiten, unseren Alltag … auf die letzten noch auszupackenden Umzugskartons, auf die Bilder
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