Deine Schritte im Sand
diesen wieder bergan zu bewegen, als ob nichts geschehen wäre? Immer wieder und unermüdlich?
Uns bleibt nicht die Zeit, nach einer Antwort zu suchen oder unsere so abrupt beendete Ruhe zu bejammern. Wir sammeln die Trümmer ein und versuchen, eine Art Ordnung herzustellen. Gaspard wird die Ferien bei seinen Cousins verbringen. Thérèse und ich wechseln uns bei den Mädchen ab, eine im Krankenhaus, die andere zu Hause. Wenn Loïc abends aus dem Büro kommt, übernimmt er die Wache. Die Einteilung könnte funktionieren. So haben wir es vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gemacht. Vielleicht klappt es dieses Mal ja wieder. Zumindest für einige Tage.
M ONTAG, FRÜHMORGENS . Ein Krankenwagen fährt vor, um Azylis in die Klinik zu bringen. Wir haben beide unsere Gesichtsmasken auf und sind bereit. Insgeheim fürchte ich mich vor diesem ersten Kontakt mit der Außenwelt und hoffe inständig, dass kein gefährlicher Krankheitserreger an unserem Ausflug teilnimmt. Doch die Krankenwagenfahrer sind Risikotransporte gewöhnt und verhalten sich extrem umsichtig. Azylis braucht nichts zu befürchten. Sie macht sich jedoch die wenigsten Sorgen. Unser Ausflug gefällt ihr. Während der kurzen Fahrt bemüht sie sich, Bruchstücke einer Welt zu erhaschen, die ihr vorenthalten wird. Sie reckt den Hals und blickt mit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. In der Klinik wird sie sofort in einen gründlich desinfizierten Raum gebracht. Als die Krankenschwester die Tür schließt und sie wieder von der bunten und lebhaften Welt dort draußen trennt, wirkt sie unzufrieden.
Wir lernen die Räumlichkeiten und das Team kennen, das für die Nachsorge zuständig ist. Der Chefarzt horcht Azylis ab und stellt einen Betreuungsplan auf. Die kommenden Monate sind voller Termine. Azylis soll einmal pro Woche zur Untersuchung vorbeigebracht werden. Alle drei Wochen werden ihr Antikörper gespritzt, um ihre noch schwache Immunabwehr zu unterstützen. Die sonstige Behandlung wird zu Hause stattfinden; zur Katheterpflege kommt zweimal in der Woche eine Krankenschwester vorbei.
Der Arzt schärft uns noch einmal ein, dass Azylis bereits beim geringsten Fieber sofort in die Klinik muss. Das ist nicht sehr erfreulich. Ein fünf Monate altes Kind kann oft, durchaus auch ohne gefährliche Ursache, eine erhöhte Temperatur aufweisen. Wenn wir Azylis bei jedem durchbrechenden Zahn ins Krankenhaus bringen müssen, dann fürchte ich, dass sie die meiste Zeit dort verbringen wird. Trotzdem nehmen wir den Rat natürlich nicht auf die leichte Schulter; hinter einem Fieber kann sich auch etwas anderes, viel Schlimmeres verbergen, zum Beispiel ein durch den Katheter hervorgerufener Infekt.
Nach dem Tag in der Klinik ergötzt sich Azylis sichtlich an den ungewohnten Freuden der Heimfahrt im Krankenwagen. Und ich atme ein wenig auf. Der erste Kontakt mit dem Personal war angenehm, was ich, um ehrlich zu sein, nicht unbedingt erwartet hatte. Wir waren an die Ärzte und Methoden der Klinik in Marseille gewöhnt und müssen jetzt in Paris wieder bei null anfangen. Es ist nicht leicht, sich einer neuen Institution anzuvertrauen, so gut ihr Ruf auch sein mag, und ihr das Liebste zu überlassen, das man hat. Wir werden sehen …
Wir kommen gleichzeitig mit Loïc zu Hause an. Ich nehme mir ein wenig Zeit, über meine ersten Eindrücke aus dem Krankenhaus zu berichten, ohne allerdings zu sehr ins Detail zu gehen. Die Zeit drängt. Schnell packe ich meine Übernachtungsutensilien, ein gutes Buch und ein Foto von den Kindern in eine Tasche und haste zurück ins Krankenhaus zu Thaïs. Draußen ist es schon dunkel, aber mein Tag ist noch lange nicht zu Ende.
DIE KRAFT EINER LÖWIN IM KÖRPER einer zierlichen Libelle. Genau das sehe ich vor mir, während ich an Thaïs’ Bett wache. Die Kleine ist blass, mager und atmet mühsam. Aber sie klammert sich ans Leben. Sie ist entschlossen, zu kämpfen. Seit ihrer Einlieferung in die Klinik häufen sich die Komplikationen. Die Gastroenteritis hält an, die Atemwegsinfektion will nicht weichen. Thaïs ist körperlich sehr geschwächt, aber sie gibt nicht klein bei. Sie verteidigt sich mit Zähnen und Klauen gegen die Krankheit. Dafür wird sie allerdings Zeit brauchen – viel mehr Zeit als ein anderes Kind. Die Leukodystrophie arbeitet gegen sie. Trotzdem bleibe ich zuversichtlich. Ich weiß, dass sie es dieses Mal noch schaffen wird, weil sie es unbedingt will.
An diesem Abend allerdings geben die Symptome wenig Anlass zur
Weitere Kostenlose Bücher