Deine Schritte im Sand
Nachrichten gleich im Doppelpack. Der Arzt ist nämlich noch nicht fertig. Er verkündet uns, dass die letzten Untersuchungen auch in anderer Hinsicht äußerst positive Resultate ergeben haben: Das neue Knochenmark hat seine Arbeit aufgenommen; sie braucht keine Transfusionen mehr. Auch die weißen Blutkörperchen, die sich um die Abwehr kümmern, sind in ausreichender Zahl vorhanden und gewährleisten ihr eine vollständige Unabhängigkeit. Daher wird man sie umgehend in ein weniger hermetisch abgeriegeltes Zimmer verlegen.
Kann mich bitte mal jemand zwicken? Habe ich richtig gehört – Azylis darf tatsächlich die Isolierstation verlassen? Jetzt gleich?
Beinahe. Das neue Zimmer muss nur noch vorbereitet werden. Das sind ja unfassbar gute Neuigkeiten! Wir jubeln.
Der neue Bereich ist eine Art Mittelding zwischen der Isolierstation und zu Hause. Hier wird weniger streng abgeschirmt und sterilisiert. Zwar müssen wir weiterhin Gesichtsmasken tragen und strenge Hygienemaßnahmen befolgen, aber die sterile Schutzkleidung gehört der Vergangenheit an.
Eine drängende Frage aber habe ich noch. »Dürfen wir sie jetzt küssen?«
»Nein, noch nicht. Dazu ist es noch zu früh.«
Aber der ersehnte Moment kommt immer näher. Bald wird Azylis entlassen.
A TEM SCHÖPFEN . Heute haben wir einmal den Pausenknopf gedrückt und nehmen uns Zeit für einen romantischen Ausflug. Gaspard und Thaïs haben wir ihren Großeltern anvertraut, Azylis bleibt in der Obhut liebevoller Krankenschwestern. Unsere Probleme, die ständigen Bewährungsproben und unsere Erschöpfung haben wir ausgeklammert und sind für einige Stunden allem entflohen. Sorglos und glücklich sind wir die Route des Crêtes entlanggewandert und anschließend entspannt durch die Gässchen von Cassis geschlendert.
Nun geht der Tag langsam zur Neige. Wir sitzen in der Felsenbucht von Sormiou. Hier, im Schutz der steinigen Abhänge, fühlt man sich wie am Ende der Welt. Das azurblaue Meer erstreckt sich bis zum Horizont. Welche Stille! Ich lehne an einem lauwarmen Felsen, genieße die letzten Sonnenstrahlen und lasse meine Gedanken vom regelmäßigen Rauschen der Wellen davontragen. Loïc döst neben mir vor sich hin. Ich schließe die Augen. Langsam laufen die vergangenen Wochen wie ein Film vor mir ab. Und zum ersten Mal unterbreche ich die Aneinanderreihung der oft so schmerzlichen Bilder nicht, sondern lasse ein neues Gefühl zu: Stolz.
Mir kommt das Plakat einer gemeinnützigen Organisation in den Sinn. »Jeder hat seinen Mt. Everest«, steht darauf. Das Plakat hängt in der Kinderhämatologiestation an der Wand. Jeden Tag gehe ich daran vorbei, und jeden Tag verspüre ich einen leisen Stich im Herzen – wie eine winzige Entmutigung. Oh ja, es stimmt, dass jeder seinen Berg hat, den er erklimmen muss. Unserer sah noch vor wenigen Monaten leicht zugänglich und vergleichsweise chancenreich aus. Aber die Wirklichkeit erwies sich als viel härter. Unser Pfad führte durch schroffe Schluchten, an schwindelerregenden Steilwänden entlang, auf trügerische Ebenen, und er zeigte unerwartete Tücken.
Heute, nach sechs Monaten strapaziösen Aufstiegs, gönnen wir uns eine wohlverdiente Rast. Für einige Zeit ist die pittoreske Felsenbucht für uns eine Art Berghütte. Und endlich gestatte ich mir, mich umzublicken und zu ermessen, welche Höhe wir bisher erklommen haben. Was ich erkenne, verschlägt mir fast den Atem. So viel haben wir schon geschafft! Aus der Ferne lasse ich den Weg noch einmal Revue passieren und betrachte jede seiner Windungen: die beiden Nachrichten von der Erkrankung unserer Töchter, die unerträgliche Wartezeit, durchwachte Nächte, düstere Tage, Thaïs’ Schmerzen, die Übersiedlung nach Marseille, die Krankenhausaufenthalte, die Stammzellenübertragung bei Azylis, die Trennungen, Gaspards Tränen, die blauen Flecken auf der Seele, unsere so oft zerrissenen Herzen … Und doch haben wir überlebt.
Trotz aller Herausforderungen haben wir nicht aufgegeben, sondern lediglich unser Herangehen verändert. Wir haben nicht mehr versucht, den Gipfel zwischen den Wolken zu entdecken, sondern uns vorsichtig Schritt für Schritt vorangetastet, einen Fuß vor den anderen gesetzt. Jeden Tag aufs Neue. Und bis hierher sind wir schon gekommen, vereinter denn je.
Ich bin stolz! Stolz auf uns, stolz auf Loïc, stolz auf unsere Kinder, unseren Glauben und unsere Liebe. Ja, ich bin stolz auf unser Leben. Und auch auf all die anderen, die uns ohne Furcht zu
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