Deine Schritte im Sand
Hoffnung. Thaïs’ Zustand verschlechtert sich. Ihre Atmung wird langsamer, ihr Herz rast. Die Krankenschwestern verlassen das Zimmer keine Minute. Ständig messen sie ihre Temperatur, überprüfen das EKG und die Sauerstoffsättigung des Blutes. Sie vermehren die Aerosole und erhöhen die Sauerstoffabgabe, um Thaïs’ unregelmäßige Atmung zu unterstützen.
Kurz vor Mitternacht, als der Arzt bereits darüber nachdenkt, das Reanimationsteam zu benachrichtigen, lassen die Messungen wieder ein wenig Hoffnung zu. Es sind die ersten positiven Anzeichen seit vielen Stunden. Thaïs’ Puls wird ruhiger, ihre Atmung gleichmäßiger. Das Gewitter zieht ab. Thaïs hat nicht nachgegeben.
In den folgenden Tagen bleibt ihr Zustand kritisch, auch wenn einiges auf eine Besserung hindeutet. Meine kleine Löwin rappelt sich langsam wieder auf, bleibt aber sehr verletzlich. Die Infektion hat sie körperlich gezeichnet; diese Spuren werden für immer bleiben. Nichts wird wieder werden wie zuvor.
NACH ZWEI WOCHEN KLINIKAUFENTHALT KOMMT THAÏS NACH HAUSE . Die Symptome sind abgeklungen, doch dafür hat unsere kleine Tochter einen hohen Preis zahlen müssen.
Unsere Prinzessin Courage hat viel Energie aufgebracht, um den Infekt zu überwinden. Ihr Zustand hat sich weiter verschlechtert. Sie leidet unter starken spastischen Lähmungen, einer erhöhten Eigenspannung der Skelettmuskulatur. Sie kann nicht mehr in ihrem Spezialstuhl sitzen, und wenn man sie trägt oder ihre Haltung verändert, verzieht sie schmerzlich das Gesicht, selbst wenn man ganz vorsichtig ist. Daraus folgt unwiderruflich: Sie wird ab sofort ihr Bett nicht mehr verlassen können.
Es ist merkwürdig, zwei Töchter zu haben, die beide in ihren Zimmern liegen, aber durch einen unüberwindbaren Korridor getrennt sind. Und noch schlimmer ist es, mit ansehen zu müssen, wie sich ihre Zukunft in völlig entgegengesetzte Richtungen entwickelt. In einigen Wochen wird Azylis endlich die Schwelle überschreiten und die Welt entdecken dürfen, die für sie bisher noch hinter ihrer Zimmertür verborgen lag. Für sie geht es nun stetig voran.
Thaïs hingegen entwickelt sich zurück. Im Verlauf ihres Lebens hat sie jeden Raum unserer Wohnung erkundet; zunächst aufrecht auf ihren Beinchen stehend, später auf allen vieren und zum Schluss in einem Spezialstuhl. Von nun an wird sie das nie mehr tun. Sie wird das Leben nur noch durch das erfahren, was man von jenseits ihrer vier Wände und des Rechtecks ihrer Matratze zu ihr bringt. Ihr Universum hat sich auf eine Fläche von zwei Meter Länge und neunzig Zentimeter Breite reduziert. Mir zerreißt es fast das Herz.
Es ist allgemein bekannt, dass Unbeweglichkeit sowohl zu körperlichen als auch zu seelischen Problemen führt. Thaïs allerdings zeigt sich keineswegs betrübt. Sie liegt friedlich in ihrem Bett, hört ihre Geschichten an, genießt Besuche und macht manchmal mit ihrem Bruder Radau. Körperlich jedoch verursacht ihre Bettlägerigkeit durchaus Probleme. Der Mensch ist nun einmal nicht dafür geschaffen, sein Leben im Liegen zu verbringen. Und bei Thaïs zeigen sich viele Beschwerden. Die Haut an den Auflagepunkten entzündet sich, ihre Gliedmaßen werden steif, ihre Bronchien verschleimen. Wenn wir nichts unternehmen, kann sich ihr Zustand rasch verschlechtern. Als Gegenmaßnahme empfiehlt der Arzt, täglich einen Physiotherapeuten aufzusuchen, um ihr die Atmung zu erleichtern und wenigstens eine gewisse Beweglichkeit zu erhalten.
Wir durchforsten die Gelben Seiten, um einen Heilgymnastiker zu finden, der sich mit dieser seltenen Krankheit auskennt und ins Haus kommt. Die Suche erweist sich als schwieriger als gedacht. Wir sind kurz davor zu verzweifeln, als wir wieder einmal voll ins Schwarze treffen. Jérôme sagt auf unsere Anfrage hin zu. Als wir ihn Thaïs vorstellen, akzeptiert sie ihn sofort, obwohl sie ihn nicht sehen kann. Aus dem Bauch heraus. Ich spüre, dass sie jeden Tag auf ihn wartet. Wenn er schließlich da ist, seufzt sie glücklich und lässt sich vertrauensvoll von ihm behandeln. Mich als Mutter berühren diese Gefühlsäußerungen sehr tief. Obwohl Thaïs’ körperliche Fähigkeiten zusehends verfallen, stelle ich fest, dass das Herz meiner kleinen Tochter immer noch in der Lage ist, große Zärtlichkeit zu empfinden.
E S IST EIN TEUFELSKREIS . Nur eine Woche nach Thaïs’ Heimkehr, als sie gerade wieder anfängt, sich heimisch zu fühlen und einigermaßen zu Kräften zu kommen, verschlechtert
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