Deine Schritte im Sand
Normalität. Azylis muss nicht mehr zur Nachsorge in die Klinik. Von Zeit zu Zeit wird man ihr Blut abnehmen; einmal im Jahr muss sie zur Kontrolluntersuchung. Mehr nicht, zumindest nicht wegen der Transplantation. Hinsichtlich ihrer MLD bleibt alles wie gehabt. Sie muss alle drei Monate zwecks Überprüfung untersucht werden. Wann diese Untersuchungen aufhören, weiß niemand. Falls sie überhaupt je aufhören.
Doch die Transplantation ist endgültig abgeschlossen. Im Lauf der Monate hatte ich irgendwann völlig vergessen, dass diese Phase der Nachsorge einmal vorübergehen würde. Wirklich verrückt! Es war ein Übergang, der sich in unserem Leben fest verwurzelt hatte. Ich hatte mich an die Fahrten zum Krankenhaus gewöhnt; sie gehörten zu unserem Leben.
Beim Umblättern der Seite fällt mir auf, dass ich keinerlei unangenehme Erinnerungen an diese Zeit habe. Vielleicht arbeitet mein Gedächtnis selektiv und speichert nur das Positive, damit ich die Vergangenheit ertragen kann. Nur ein Gefühl von zeitweiligem Überdruss ist geblieben und einige unangenehme Eindrücke wie die große Angst in der Zeit, als bei Azylis künstlich eine G v HR ausgelöst wurde. Aber nichts Schlimmeres. Keine Wunden, keine Narben.
Parallel zu der Seite der Transplantation gibt es noch eine andere, die jetzt ebenfalls umgeblättert wird. Es ist eine Seite, die ich gehasst habe. Es geht um die Medikamente, die Azylis nehmen musste. Monatelang hatten wir täglich die größte Mühe, ihr widerliche Tabletten und ekelhafte Säfte einzuflößen. Jeden Tag kämpften wir gegen ihren Brechreiz und achteten nicht auf ihre Tränen, weil wir uns sagten, dass es nur zu ihrem Besten geschehe. Und jeden Tag fragten wir uns zornig aufs Neue: Warum produzieren Arzneimittelfirmen keine Medikamente, die für Kinder leichter einzunehmen sind?
Sobald es über die klassischen Schmerz- und Fiebermittel mit Erdbeergeschmack hinausgeht, wird das Verabreichen von Medikamenten an Kinder zur wahrhaft harten Nuss. Die meisten Medikamente sind weder von der Form noch vom Geschmack her für kleine Patienten geeignet. Sie sind herb, bitter, rau, klebrig, körnig, abscheulich. Sie kommen als Kapseln oder Tabletten auf den Markt, die Kinder unmöglich schlucken können. Wir mussten bei jeder Einnahme die Kapseln öffnen oder die Tabletten zerkleinern, sie in Wasser auflösen, sie unserem widerspenstigen Töchterchen einflößen und dabei hoffen, dass sie nicht alles wieder ausspuckte. Oft habe ich dabei neidvoll auf Thaïs’ Magensonde geblickt, die die Einnahme von Medikamenten deutlich erleichtert.
Doch diese schrecklichen Rituale liegen jetzt ebenfalls hinter uns. Und darüber bin ich wirklich glücklich. Nicht nur unseretwegen, sondern vor allem auch wegen Azylis. Allmählich lebt sie fast wie alle anderen kleinen Mädchen ihres Alters.
IMMER WIEDER GERATE ICH INS STAUNEN. Sobald jemand das Zimmer von Thaïs betritt und sie nicht gerade schläft, dreht sie den Kopf in seine Richtung. Wenn der Besucher an ihr Bett tritt, wendet sie sich ihm richtiggehend zu, und zwar ganz gleich, an welche Seite er sich stellt. Woher weiß sie so genau, wo wir uns im Raum bewegen? Es ist wirklich mysteriös.
Auch heute reckt Thaïs mir das Köpfchen entgegen, als ich in ihr Zimmer komme. Ich trete ganz nah an sie heran, beuge mich über sie und beginne, leise mit ihr zu reden. Doch just in diesem Moment wendet sie ihr Gesicht zur anderen Seite, wo niemand steht. Ich gehe um das Bett herum und stelle mich auf die andere Seite, um in ihrem »Visier« zu bleiben. Doch wieder dreht sie sich um. Was ist da los? Ärgert sie sich? Eigentlich sieht sie alles andere als unzufrieden aus. Ich wechsele erneut die Position, und wieder dreht sich ihr Kopf in die entgegengesetzte Richtung.
Nach mehreren fruchtlosen Versuchen werde ich allmählich unruhig. Hat Thaïs etwa diesen inneren Kompass verloren, der sie immer auf uns ausrichtet, ohne dass sie uns sehen oder hören kann? Doch dann höre ich ein leises Glucksgeräusch, das ich unter Tausenden erkennen würde: Thaïs lacht!
Und jetzt endlich verstehe ich. Sie lacht, weil sie ihren Schabernack mit mir getrieben hat. Sie spielt ganz einfach Verstecken. Das war schon früher immer ihr Lieblingsspiel, und jetzt hat sie eine Möglichkeit gefunden, es auch weiterhin zu spielen. Die Fantasie von Kindern ist wirklich grenzenlos. Es ist ein bisschen so wie bei den ganz Kleinen, die zu verschwinden glauben, wenn sie das Gesicht in den Händen
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