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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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verbergen. Thaïs hält sich für unsichtbar, wenn sie sich zur anderen Seite dreht.
    Innerlich segne ich diesen magischen Augenblick, in dem meine kleine Tochter ihrer Krankheit eine lange Nase dreht. Nichts kann sie daran hindern zu spielen. Sie ist wie der kleine Junge mit seiner Eisenbahn aus der Geschichte.
    Mitgerissen von ihrer unwiderstehlichen Kindlichkeit lasse ich mich auf ihr Spiel ein und tue so, als könnte ich sie nicht finden. Lärmend und rufend suche ich sie im ganzen Zimmer. Als könnte ich sie tatsächlich nicht sehen. Sie, die die gesamte Mitte des Raums beansprucht. Und die Mitte und den Kern meines Lebens.

D IE STAFFELEI IST AUFGEBAUT, die Pinsel sind vorbereitet, auf der Palette befinden sich dicke Farbkleckse. Bertrand, der Mann mit dem künstlerischen Talent, nimmt seine Aufgabe in Angriff. Er hatte die Idee, Thaïs zu malen. Sie so unsterblich zu machen, wie sie heute ist: schön – einfach nur wunderschön.
    Begabung, Erfahrung und seine Technik bewahren unseren Freund Bertrand vor der berühmten Scheu vor der weißen Leinwand. Trotzdem zögert er lange, ehe er den ersten Farbtupfer setzt. Er weiß nur zu genau, was uns dieses Porträt eines Tages bedeuten wird, wenn Thaïs nicht mehr bei uns ist. Fotos sind manchmal ziemlich brutal, denn sie verbergen nichts von der grausamen Wirklichkeit. Die Malerei ist da feinfühliger. Sie kann die hässlichen Schläuche verschwinden lassen, um nur das Wichtigste hervorzuheben: ein hübsches kleines Mädchen, das in seinem Bett schläft.
    Als er mit ihr allein ist, lässt er ihr Zimmer auf sich wirken: ihre Kuscheltiere und ihre ganze kleine Welt, durch die sie bestimmt und charakterisiert wird. Und schließlich wird er kreativ. Thaïs ist nicht schwer zu malen. Weder ist sie ungeduldig, noch zappelt sie herum oder verkrampft sich. Sie behält unbesorgt ihre Stellung bei. Genaugenommen bewegt sie sich überhaupt nicht, weil sie tief und fest schläft. Es ist die Art von Schlaf, der sie jetzt immer häufiger überkommt und einer Bewusstlosigkeit ähnelt.
    Einige Stunden später beendet der Künstler sein Porträt mit letzten Pinselstrichen. Als habe Thaïs gespürt, dass ihr Besucher dabei ist, sie zu verlassen, wacht sie genau in diesem Moment auf. Kaum dass sie ein Auge halb öffnet – doch das allein genügt, um ein winziges Leuchten zu enthüllen. Ohne den Blick von seinem Modell zu wenden, greift Bertrand erneut nach den Pinseln. Mit zwei oder drei erfahrenen Bewegungen verändert er sein Werk. Er setzt einen glänzenden, schwarzen Punkt in die Lidspalte und zieht die Mundwinkel ein winziges Stück weiter hinauf, während er das Rot der Lippen ein wenig vertieft. Kaum merkliche Einzelheiten, die jedoch Thaïs typisches Lächeln einfangen und das Gemälde illuminieren.
    Oh ja, das Lächeln von Thaïs! Mona Lisa würde blass vor Neid. Es ist ein unnachahmliches Lächeln, eine sanfte Mischung aus Unschuld und Reife, aus Freude und Ernst. Ein niemals gekünsteltes Lächeln, das aus der Tiefe ihrer schönen Seele kommt. Es schmeichelt sich in das Sprühen ihrer Augen unter den langen, dunklen Wimpern und in das kaum bemerkbare Verziehen ihres Mundes. Es ist kein breites, strahlendes Lächeln; das kann sie nicht mehr. Dazu mangelt es ihrem Gesicht an Beweglichkeit. Nein, es ist ein Lächeln, das aus dem Herzen kommt.
    Das Gemälde ist das wertvollste Geschenk, das wir je bekommen haben. Bertrand hat sich nicht damit begnügt, Thaïs’ Gesicht auf einer Leinwand festzuhalten. Mit den noch nicht ganz trockenen Farben hat er für immer ihre Persönlichkeit eingefangen, ihr Wesen, ihren Geist, ihr Leben. Und ihr Lächeln.
    DREIDREIVIERTEL JAHRE. Heute. Genau heute wird Thaïs dreidreiviertel Jahre alt. Ein kleines Mädchen. So jung, dass man noch die Vierteljahre zählt. In ihrem Fall ist das vergangene Jahr so angefüllt, dass es eigentlich doppelt zählen müsste. Fast hat sie das vierte Jahr erreicht. Nur noch drei Monate! Drei zu überstehende Monate. Wird sie die Kraft aufbringen, ihren vierten Geburtstag zu erreichen? Ihr Geburtstag gleicht einer Fata Morgana, die sich immer weiter entfernt, je näher man heranzukommen versucht. Die Tage, die uns noch von diesem Ereignis trennen, tröpfeln viel zu langsam dahin. Wie gern würde ich sie zu diesem Geburtstag beglückwünschen! Vor allem zu diesem. Denn das nächste Jahr ist wieder ein Schaltjahr und hat einen 29. Februar. Und an diesem Tag, genau an diesem Tag, wird Thaïs vier Jahre alt.
    Mit

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