Deine Schritte im Sand
Himmels. Ich blicke nach oben, suche das Firmament ab und freue mich darauf, den Abend im trockenen Gras liegend zu verbringen und zu hoffen, einen der sterbenden Sterne vorbeihuschen zu sehen. Denn ich habe einen Wunsch, den ich ihm mitgeben will. Kaum habe ich mich hingelegt, als auch schon die erste Sternschnuppe über den Himmel zieht. Ich folge der goldenen Spur für den Bruchteil einer Sekunde – gerade lang genug, um meinen Wunsch zu flüstern: »Ich möchte als ganz normale Frau wahrgenommen werden.«
E IN FÜSSCHEN VOR DAS ANDERE. Ein wenig zögernd noch. Ein Schritt, dann ein zweiter. Es sieht noch ein bisschen wackelig aus, aber Azylis läuft! Nicht ganz allein, sondern an Loïcs Finger geklammert. Doch diese kleine Unterstützung zählt nicht wirklich, sie dient nur dazu, ihr Sicherheit zu geben. Wichtig ist, dass sie sich auf den Beinen hält, auch wenn noch Unsicherheiten zu sehen sind.
Ja, sie läuft! Schon seit einigen Tagen machte sie Ansätze, traute sich jedoch nicht recht. Aber heute hat sie es gewagt. Sie fixiert das nahe Sofa, die Endstation ihres Abenteuers. Schritt für Schritt geht sie darauf zu, ohne die Hand ihres Papas loszulassen. Und ich beobachte sie. Mit klopfendem Herzen starre ich wie gebannt auf ihre Schuhspitzen.
Verdreht sich ihr Fuß? Ich bringe es nicht fertig, den Gedanken beiseitezuschieben. Ich habe Angst. Ich fürchte mich davor, auch bei Azylis eines Tages die Spur der Krankheit zu erkennen, ganz nebenbei, bei einem banalen Bewegungsablauf. Mehr als alles andere auf der Welt graut mir vor einem zitternden Händchen oder einer verdrehten Ferse. Denn das wäre ein erstes Anzeichen für das Übel. Obwohl ich mich zur Ruhe zu zwingen versuche, wächst meine Angst mit jedem verstreichenden Monat. Jeder Tag bringt uns näher an die kritische Phase heran, in der sich die ersten sichtbaren Symptome der MLD zeigen können.
Schon fast unbewusst analysiere und seziere ich jede noch so kleine Geste und das Verhalten von Azylis. Ich beobachte sie beim Trinken, beim Essen, wenn sie sich setzt oder hinlegt, wenn sie läuft und wenn sie weint. Geradezu zwanghaft mustere ich jeden ihrer Schritte in eine neue Lebensphase und versuche, mich zu erinnern, wie es bei Gaspard und vor allem bei Thaïs gewesen ist …
Dreht sich also ihr Füßchen? Auf den ersten Blick habe ich nicht den Eindruck. Nein, ich glaube nicht. Es sei denn, ich habe nicht aufmerksam genug hingeschaut. Aber mir schmerzen bereits die Augen, so intensiv starre ich auf ihre Schuhspitzen. Ich weiß nicht mehr, was ich sehe. Ich habe noch nicht einmal die ersten Schritte meiner kleinen Tochter genossen. Ich habe sie nicht zu ihrer Heldentat beglückwünscht. Stattdessen habe ich mich von dieser unkontrollierten Angst überwältigen lassen. Ich setze mich auf die Couch, die sie so hochgemut erstürmt hat wie andere den Gipfel des Mont Blanc, und muss weinen. Es sind Tränen der Angst und Tränen unbändigen Stolzes. Ich beglückwünsche Azylis, indem ich sie fast ein wenig zu fest an mich ziehe. »Bravo, mein Liebling. Du kannst ja laufen!« Ja, sie läuft. Aber auch Thaïs ist gelaufen. Und doch …
WIR HABEN NICHT BEMERKT, WIE DIE ZEIT VERGING. Aber genau daran erkennt man eine gute Zeit. Der Monat August stürmte vorbei wie ein Windstoß. Mir ist, als wären wir erst gestern angekommen, aber wir müssen schon wieder packen, das Haus aufräumen und die Rückreise antreten. Die Kinder verabschieden sich mit dem Versprechen voneinander, sich möglichst bald wiederzusehen. Tränen fließen. Niemand freut sich über das Ende der Ferien.
Die Besatzung des Krankenwagens ist pünktlich. Es sind wieder dieselben Männer wie auf der Hinfahrt. Auf der Rückfahrt bleibt uns jeglicher Stress erspart, und nach wenigen Stunden setzt uns der Krankenwagen wohlbehalten vor unserer Haustür ab. Wir sind wieder daheim. Und die alten Gewohnheiten kehren schnell zurück.
Thaïs freut sich sehr über die ihr bekannten Krankenschwestern und ihren geliebten Physiotherapeuten. Und auch unsere Helfer sind glücklich, ihre kleine Patientin nach einem langen Trennungsmonat wiederzusehen. Trotz ihrer Freude spüre ich jedoch, dass ihnen die Veränderungen bei Thaïs nicht entgangen sind. Natürlich wissen auch wir, dass ihr Zustand nicht mehr so ist wie bei der Abreise.
In diesem Monat August blieben uns zwar die heftigen Ängste wie zu Pfingsten oder am vergangenen Weihnachtsfest erspart, aber es gab immer wieder kleinere Schreckmomente. Wenn
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