Deine Schritte im Sand
zum Beispiel, ohne dass man einen Grund erkennen konnte, ihr Herzschlag plötzlich rascher wurde oder aussetzte, sie zu atmen aufhörte oder ein Fieberschub ihre Temperatur in schwindelerregende Höhen trieb. Jede Krise bedeutet Gefahr. Und Thaïs lässt sie nie ohne Spuren hinter sich. Inzwischen döst sie die meiste Zeit. Der Grund dafür ist leider nicht allein das Morphin. Ihre Lethargie verwandelt sich mehr und mehr in den Verlust von Bewusstsein. Die MLD attackiert zunehmend Thaïs’ Gehirn.
Ihre leichten Komaphasen führen bei mir zu ganz merkwürdigen Gefühlen. Auch wenn Thaïs so aussieht, als schlummere sie friedlich, spürt man doch, dass es sich nicht um einen normalen Schlaf handelt. In diesen Augenblicken geht eine ganz besondere Präsenz von ihr aus. Die Intensität ihrer unbewussten Anwesenheit ist so deutlich, dass sie uns dazu bringt, mit ihr zu reden und uns so zu verhalten, als wäre sie wach.
Ich bin immer sehr erleichtert, wenn Thaïs aus ihren komaähnlichen Tiefschlafphasen erwacht, weil ich oft fürchte, dass sie nie mehr munter wird. Im Dezember haben uns die Ärzte ihren unmittelbar bevorstehenden Tod verkündet. Inzwischen sind neun Monate vergangen, und Thaïs ist immer noch bei uns. Gaspard glaubt längst, dass seine Schwester unsterblich ist.
An Leukodystrophie erkrankte Kinder sterben häufig an Problemen mit der Atmung oder an Infektionen. Seit Weihnachten sind Thaïs solche Komplikationen erspart geblieben. Sie hat sich weder einen Virus noch auch nur die kleinste Erkältung eingefangen. Tief innerlich bin ich dennoch davon überzeugt, dass Thaïs den Weg ihrer Krankheit bis zum Ende gehen muss. Und ich hege den Verdacht, dass sich dieses Ende mit großen Schritten nähert.
MORGEN IST SCHULBEGINN. Gaspard hat seine Schulsachen vorbereitet, seine Stifte sortiert, seine Hefte geordnet und seine Schuluniform bereitgelegt. Jetzt steht eine Schultasche, gepackt für den großen Tag, in unserem Flur. Nur eine Schultasche. Denn Thaïs wird morgen nicht in die Vorschule gehen. Weder morgen noch irgendwann.
Morgen ist der Tag, an dem alle Kinder ihres Alters in die Vorschule eingeschult werden. Mutig werden sie an der Hand ihrer stolzen und ein wenig bewegten Eltern einen großen Schritt tun. Aber der Tag von Thaïs wird aussehen wie der heutige, wie der Tag davor und der vor diesem. Sie wird nicht aufstehen, sich nicht anziehen, nicht ihren kleinen Rucksack umhängen und nicht meine Hand umklammern, ehe sie das erste Mal ein Klassenzimmer betritt. Für sie gibt es morgen kein besonderes Ereignis. Ihr Leben wird bestimmt von der üblichen Abfolge aus Krankenschwestern, Physiotherapeuten und Lieferung von Sauerstoff und Nährlösung. Ihre ganz persönliche Routine.
Morgen wird Gaspard mit gesenktem Kopf zur Schule gehen – traurig, weil Thaïs nicht mit ihm zusammen den Schulbeginn feiert. Ich werde ihn vor sich hinmurmeln hören: Er rechnet aus, in welcher Klasse er ist, wenn Azylis bei den ganz Kleinen eingeschult wird. Und dann wird er sich wünschen, dass er der Grundschule noch nicht entwachsen ist, um wenigstens ein Schuljahr mit ihr an der gleichen Schule zu verbringen. Ich werde nicht wagen, ihm zu sagen, dass Azylis vielleicht nie in der Lage sein wird, zur Schule zu gehen. Ich sage nichts, weil die Zukunft von Azylis noch völlig im Dunkeln liegt. Warum sollte ich Gaspard seine Hoffnungen vorzeitig rauben?
Morgen wird Gaspard von dem Eingang seines neuen Schultrakts lange in meinen Armen weinen. Wie viele andere kleine Schüler auch. Aber nicht aus denselben Gründen. Er wird weinen, weil es ihn bedrückt, als Einziger aus der Familie zur Schule zu gehen. Während ich ihn zu trösten versuche, werde ich darüber nachdenken, wie schwer erträglich die Normalität sein kann, wenn sie zur Ausnahme wird.
Morgen wird mich Gaspard, ehe er mit zusammengebissenen Zähnen die Schule betritt, um etwas bitten: »Mama, könntest du meiner Klasse die Sache mit Thaïs und Azylis erklären? Bitte, Mama. Es ist besser, wenn du es tust. Dir werden die Kinder wenigstens glauben.«
Morgen wird unser Berg dem Himalaja gleichen. Nur höher wird er sein.
U ND WIEDER WIRD EINE SEITE UMGEBLÄTTERT. Eine sehr wichtige Seite. Eine Seite, die mit zitternden Fingern geschrieben wurde: die der Stammzellentransplantation. Ein Jahr ist es jetzt her, und es ist vorbei. Das Immunsystem von Azylis arbeitet perfekt, und die Produktion von Blutzellen lässt keine Wünsche offen. Alles wendet sich zur
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