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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Ernst
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erwidere ihr Grinsen, bis ich merke, dass mir jemand von hinten am Hemd zupft. Im selben Moment höre ich eine sanfte Stimme.
    »Mister, Sie haben Ihr Handy verloren.«
    Amy, die mir gegenübersteht, blickt an mir vorbei – und ihr Gesicht erstarrt zu einer Maske des Schocks. Reflexartig wende ich mich um und sehe direkt – in Amys Mädchengesicht.
    Einfach so steht sie vor mir, ohne jede Vorwarnung. Sie ist vielleicht neun oder zehn Jahre alt und der Amy meiner Kindheit wie aus dem Gesicht geschnitten.
    »Das war der dicke Aaron«, erklärt sie abfällig. »Der tickt eh nicht richtig. Der hat auch schon mal die alte Miss Huggins getreten.«
    Da ... dieses Geplapper ...
    »Die gibt es noch?«, frage ich geistesgegenwärtig, jedoch völlig monoton. Amy, die schräg hinter mir steht, rührt sich noch immer nicht.
    »Ja! Aber …« Nun streckt sich die Kleine mir entgegen, die Hand geheimnisvoll vor den Mund geschlagen. Wie ferngesteuert beuge ich mich zu ihr herab.
    »… die ist bestimmt schon über neunzig. So sieht sie zumindest aus«, flüstert sie verschwörerisch.
    Ich bin zu geschockt, um lachen zu können. Diese Stimme, die blauen Augen, die Stupsnase, die blassen Sommersprossen, die geflochtenen Zöpfe – das alles kann kein Zufall sein!
    Doch noch ehe Amy und ich in der Lage sind, einen klaren Gedanken zu fassen, zuckt die Kleine lässig mit den Schultern, verabschiedet sich mit einem kurzen: »Also, tschüs!«, und hüpft fröhlich davon – in Richtung Saint Toulouse.
    Sekundenlanges Schweigen. Dann löse ich mich aus der Erstarrung und drehe mich um. »Amy, das …«
    »Das war sicher meine kleine Schwester«, erwidert sie.
    Ihr Gesichtsausdruck jagt mir eine Höllenangst ein. Schnell schließe ich meine Arme um sie und drücke sie fest an mich.
    »Es ist okay! Hörst du, Amy? ... Ich bin da«, flüstere ich ihr zu.
    Zum Glück herrscht um uns herum die übliche Hektik – so wie an jedem Nachmittag vor einer Grundschule, wenn die Eltern ihre Kinder abholen. Keiner nimmt Notiz von uns. Das ist auch gut so.
    Amy zittert am ganzen Körper. Mit beiden Händen umfasse ich ihr Gesicht und lenke ihren Blick in Richtung meiner Augen.
    »Bist du okay?«, frage ich fast ein wenig panisch, doch Amy greift nach meinen Handgelenken und drückt sie.
    »Ja«, haucht sie tonlos.
    »Komm nicht auf die Idee, wieder abzudriften«, befehle ich ihr sanft.
    »Keine Sorge«, erwidert sie, nun deutlich gefasster und trifft damit exakt den Ton, um mich wirklich zu beruhigen.
    Nach und nach lichtet sich die Menschenmenge um uns herum, bis ich nach Amys Hand greife und wir langsam zu unserem Hotel schlendern.
    Erst als wir in unserem Zimmer angekommen sind und uns auf das Bett fallen lassen, bricht Amy die Stille zwischen uns. »Ich hatte fast damit gerechnet, weißt du? Dass ich Geschwister habe, meine ich. Meine Eltern wollten immer mehrere Kinder haben, das haben sie mir oft erzählt. Meine Mom war ja gerade erst siebzehn, als ich geboren wurde. Aber … dass ich meine kleine Schwester so schnell finde und dass sie …«
    Ihre Stimme bricht weg. Sofort kehrt meine Panik zurück.
    »Ja, sie sieht aus wie du. Wenn ich hätte atmen können, hätte ich wahrscheinlich geschrien vor Schock.« Sie soll wissen, dass es auch für mich ein überwältigendes Erlebnis war.
    Amy grübelt; sie beißt auf ihrer Unterlippe herum. »Sie ist so alt wie wir damals … etwas älter vielleicht. In meinen Vorstellungen von Geschwistern hatte ich sie mir deutlich älter vorgestellt. Das ist ziemlich verrückt.«
    Es dauert nur noch einige Sekunden, dann kommt die unausweichliche Reaktion.
    Amy setzt sich auf und sieht mich an. »Matty, ich weiß, dass wir erst morgen fahren wollten, aber … bitte, jetzt muss ich einfach wissen, woran ich bin. Ich weiß nicht, ob ich noch weitere Geschwister habe, oder ob dieses Mädchen – Gott, ich weiß nicht mal ihren Namen –, ob sie die Einzige ist. Ob sie überhaupt meine Schwester ist, steht ja noch gar nicht fest.«
    Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich sie an. »Zweifelst du wirklich daran?«
    »Nein«, erwidert Amy. »Aber … Matty, bitte!«
    Ich atme noch einmal tief durch und erhebe mich. Wie könnte ich ihr in der jetzigen Situation meine Einwilligung verwehren? Wie könnte ich ihr überhaupt jemals eine Bitte ausschlagen? Ich bin nicht scharf auf unsere Mission, wirklich nicht, doch es gibt wohl keinen Ausweg.
    Selbst wenn unsere Chancen, ohne seelische Schäden aus der Begegnung mit Amys

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