Deine Seele in mir /
Familie herauszukommen, ungefähr so gering sind wie die eines Eiswürfels in der Hölle – was bleibt mir für eine Wahl, als der Frau meines Lebens die Möglichkeit zu geben, ihre Eltern wiederzusehen?
»Also los!« Ich strecke ihr meine Hand entgegen.
Wieder im Auto, merke ich deutlich, dass ich die letzten beiden Tage in dieser Position verbracht habe. Mein Hintern tut weh, und ich beschließe, Amy abends eine Massage zu geben – gleichgültig, was heute noch passiert.
»Willst du reingehen? Jetzt gleich, meine ich …«, frage ich vorsichtig, als wir in die schmale Straße einbiegen, die uns direkt zu unseren alten Häusern führen wird.
»Ja, mit dir.« Sie fasst nach meiner Hand. Das leichte Zittern ihrer Finger bleibt mir nicht verborgen; ich drücke sie sanft. »Wir werden beide reingehen, Matty. Ich brauche dich! Du bist die einzige Verbindung, über die ich den Kontakt zu ihnen aufnehmen kann. Rede einfach mit ihnen. Ich gebe dir dann schon zu verstehen, ob wir heute noch weiter gehen.«
»Okay!« Ich nicke bereitwillig, doch dann kreuzt eine Frage mein Bewusstsein, die ich bisher noch nicht bedacht hatte. »Wie soll ich dich denn vorstellen?«
Amys Antwort kommt prompt – offensichtlich hat
sie
sich die Gedanken schon gemacht. »Mit dem Namen, der auch in meinen Papieren steht, natürlich. Julie Kent, deine Freundin.«
Als sie ihre Worte mit einem Schulterzucken unterlegt, wirkt das fast schon gelassen. Plötzlich bewundere ich ihren Mut.
Langsam fahre ich an dem riesigen Feld vorbei, das zu dieser Jahreszeit noch brach zu liegen scheint. Doch Amy und ich, wir beide wissen sehr gut, dass es nur noch wenige Monate dauert, bis hier die herrlichsten Sonnenblumen wachsen – so weit das Auge reicht.
Auch unsere Siedlung hat sich erstaunlich vergrößert. Neben der zweiten gibt es mittlerweile auch eine dritte Baureihe. Die neu hinzugekommenen Häuser sind deutlich größer als die unserer Eltern, die damals noch zu den größten gehörten.
Ohne es bewusst zu wollen, schweift mein Blick zu unserem ehemaligen Haus, das nur wenige Meter von Amys Elternhaus entfernt steht. Es sieht noch genauso aus wie damals. Das strahlende Weiß, die tiefblauen Fensterläden, die schmale Veranda. Selbst der alte, knorrige Apfelbaum steht noch in dem Vorgarten, nur meine Schaukel hängt nicht mehr daran.
Es ist nur dieses kleine Detail, dessen Unstimmigkeit mich jedoch schlagartig aus dem Augenblick stiller Vertrautheit reißt und zurück auf den Boden der Realität holt.
Nicht erst, als wir vor Amys Elternhaus stehen bleiben und ich den Motor meines alten Fords abstelle, kommen tiefe Zweifel in mir auf. Doch nun werden sie so laut, dass ich sie nicht mehr zurückhalten kann.
»Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst, Amy?«, platzt es aus mir heraus. Meine Stimme ist viel zu hoch, und die Worte kommen so schnell, dass ich mich fast verhasple. »Ich meine, noch können wir zurück. Es gibt so viel Ungewisses, das dich hinter dieser Haustür erwarten könnte. Deine Eltern werden mir eventuell schwerwiegende Dinge aus ihrer Vergangenheit erzählen und das womöglich so sachlich, dass es dich hart treffen wird. Bist du dir wirklich sicher?«
Es ist selten, dass Amy nichts sagt und
ich
derjenige bin, der drauflos redet. Sie sieht mich lange an. Das Grün ihrer Augen wirkt samtweich, so liebevoll und nachsichtig ist ihr Blick. Sie greift nach meiner Hand und drückt sie.
»Gehen wir«, beschließt sie schlicht.
Wir klingeln zweimal, bis die Tür plötzlich auffliegt. Und wirklich, das blonde Mädchen steht vor uns.
Es riecht nach Hackbraten, wie so oft in diesem Haus zur Mittags- oder auch noch zur frühen Nachmittagszeit. Ich festige meinen Griff um Amys Hand. Sie erwidert den Druck.
»Hallo«, sage ich zaghaft zu dem Mädchen.
»Hallo. Sie waren vorhin an meiner Schule«, stellt die Kleine nüchtern fest.
»Ja, das stimmt. Sag mal, ist deine Mutter da? Oder dein Dad?«
»Beide. Wen wollen Sie denn?«
»Egal«, erwidere ich schnell.
Schon wendet sie sich ab. »Mooom!«
»Genauso entschlussfreudig wie die große Schwester«, wispere ich Amy zu. Sie versucht ein Lächeln, das erbärmlich ausfällt. Ich fühle, wie steif sie ist. Ihr Körper, vom Haaransatz bis zur kleinen Zehe, ist angespannt, schreit nach mir. Sekunden später friert ihr Lächeln endgültig ein.
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XIX. Kapitel
E velyn, Amys Mom, erscheint mit einem karierten Spültuch zwischen den Händen in dem kleinen Flur, der so vertraut
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