Deine Seele in mir /
mich erwartungsvoll an, Julie hockt im Schneidersitz vor mir. Sie wiegt sich hin und her und begleitet ihre Bewegungen mit diesem seltsamen Singsang.
Was summt sie da bloß?, frage ich mich.
»Sieh mal, Liebling, wer hier ist«, beginnt Kristin und streichelt ihrer Tochter behutsam über den Kopf. »Matt ist da, du kennst ihn von gestern.«
Entschlossen gehe ich neben Julie in die Hocke, doch plötzlich weiß ich nicht so genau, wie ich es anstellen soll.
»Kann ich … ich meine, kann ich sie denn einfach so anheben, oder wie …?«
Sofort kommt Kristin mir zu Hilfe. »Ja, sie scheint nicht zu registrieren, wer sie hebt. Allerdings
wissen
wir das nicht, wir nehmen es nur an. Vielleicht bekommt sie doch etwas mit, und wer hätte es schon gerne, einfach geschnappt und weggetragen zu werden? Deshalb sagen wir ihr immer, was wir vorhaben. Und dann trägt Tom sie so … na ja, wie ein Bräutigam seine Braut über die Schwelle trägt.«
Sie lächelt, sichtlich nervös. Der Vergleich scheint ihr peinlich zu sein. Mir auch.
»Okay.« Zaghaft lege ich meine Hand auf das Knie der jungen Frau. Unter Kristins Blicken komme ich mir unangenehm beobachtet vor; die Situation erinnert mich an eine Prüfung.
Doch als ich in Julies Augen schaue, die geradewegs durch mich hindurchsehen und mich gar nicht zu registrieren scheinen, entspanne ich mich wieder ein wenig.
»Hey Julie!« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Im selben Moment frage ich mich, ob ich ihret- oder meinetwegen so leise spreche – und warum ich das überhaupt tue. Ich räuspere mich und fasse den Entschluss, normal mit ihr zu reden, als könne sie mich hören und verstehen.
»Ich trage dich die Treppe runter, weil dein Dad das mit seinem verletzten Rücken momentan nicht kann, okay?« Vorsichtig nehme ich sie hoch und manövriere uns durch die Türöffnung. Es ist eigenartig, dass sie zwar über eine gewisse Körperspannung verfügt, jedoch regungslos – und scheinbar auch völlig willenlos – in meinen Armen liegt.
Etwas steif trage ich Julie die schmale Treppe hinunter, die uns direkt in den Wohnraum führt. Dort lasse ich sie auf dem Teppichboden vor dem flackernden Kamin nieder.
»Da sitzt sie am liebsten«, erklärt Tom. Mit seiner Tochter vor Augen erhellt sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkt zufrieden.
Kurz darauf verabschiede ich mich vorerst von der kleinen Familie. Kristin begleitet mich zur Tür.
»Matt, dich schickt wirklich der Himmel«, sagt sie dankbar, als sie mir meinen Mantel reicht.
»Jetzt übertreib mal nicht«, erwidere ich verlegen. »Ich hab Julie doch nur die Treppe runtergebracht.«
Kristin schüttelt den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Ich spreche nicht von der Tatsache,
dass
du uns hilfst. Es ist die Art,
wie
du es tust. Tom hat meinen Eindruck bestätigt – so jemanden wie dich haben wir bisher noch nicht kennengelernt.«
Gut, das klingt nun wirklich maßlos übertrieben, doch Kristin zögert nicht lange, mir ihre Behauptung zu erklären. »Sieh mal, obwohl Julie dir mitsamt ihrer Krankheit völlig fremd ist, hast du keine Berührungsängste. Da, wo andere schnell wegsehen, interessierst du dich für sie und schaust genau hin. Du glaubst nicht, wie dankbar wir dir dafür sind, Matt! Und Julie … sie kann es zwar nicht ausdrücken, aber ich weiß, dass sie dich auch mag. Ich spüre es!«
Verdammt, ich kann mit Komplimenten einfach nicht umgehen. Meine Ohren glühen bereits, das fühle ich genau. »Das freut mich, Kristin. Wir sehen uns dann heute Abend wieder. Ich komme so gegen sechs, denke ich.«
»Oh, das ist unsere Abendbrotzeit. Darf ich dich einladen, mit uns zu essen?« Erwartungsvolle Augen blicken mich an und machen es mir unmöglich, das herzliche Angebot abzulehnen.
Warum sollte ich auch? Es ist ja nicht gerade so, dass ich etwas Besseres vorhätte.
»Sehr gerne, vielen Dank!«, willige ich ein und verabschiede mich noch einmal. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich mich abwende, ist, dass Julies Schaukeln hinter dem Rücken ihrer Mutter plötzlich deutlich stärker wird.
Nur wenig später öffnen sich die Türen des Aufzugs, und ich betrete die Praxis.
Die sterile, kühle Luft, der Geruch des Desinfektionsmittels, das Treiben meiner Kollegen, die wartenden Patienten und die Helligkeit der großen, kargen Räume – all diese Eindrücke mögen in ihrer Gesamtheit für Außenstehende eine Art Krankenhausatmosphäre versprühen, doch ich liebe diese Umgebung.
In diesem Gebäude bin ich
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