Deine Seele in mir /
nette Witwe puertoricanischer Herkunft, die uns Kindern heimlich Bonbons zusteckte, wann immer sie uns sah.
Langsam schlendern wir bis zu Amys Haus; doch sie zieht mich daran vorbei, bis nur wenige Meter dahinter der blaue Gartenzaun beginnt, der das Grundstück meines Elternhauses umsäumt.
»Sieh es dir an! Es sieht genauso aus wie damals«, kommentiert Amy leise. »Ich hätte nicht gedacht, dass sich unsere Häuser nur so wenig verändert haben.«
Sie lächelt, doch meine Kehle ist auf einmal sehr trocken. Es ist mir, als könne jeden Moment die blaue Haustür aufspringen und meine Mutter darin erscheinen. Wie damals, wenn sie nach uns Ausschau hielt und uns zum Essen rief. Ja, alles sieht genauso aus wie früher, doch schlagartig wird mir bewusst, dass meine Geschichte – im Gegensatz zu Amys – kein positives Ende finden wird.
Da öffnet sich die Tür wirklich, und eine junge Frau tritt heraus. Sie dreht den Schlüssel im Schloss, verriegelt
ihr
Haus hinter sich und steigt in ihren Wagen, ohne überhaupt Notiz von uns zu nehmen.
Meine Eltern sind nicht mehr da. Sie können mich nicht mehr in ihre Arme schließen und mich an sich drücken, so wie Peter und Evelyn es gestern mit Amy getan haben. Nie wieder werde ich die Stimme meiner Mutter hören oder die meines Vaters, wenn er schrecklich schief und viel zu laut unter der Dusche singt.
Nie mehr!
Sicher, diese Erkenntnis ist nicht neu, dennoch trifft sie mich böse in diesem Moment.
Amy scheint das zu spüren. »Es ist schwer für dich, oder?«
»Hm …«, brumme ich undefinierbar, doch sie versteht.
Liebevoll schmiegt sie ihren Kopf an meine Brust. »Komm!«, sagt sie schließlich. »Die Brötchen werden noch kalt.«
Evelyn und Peter öffnen uns gemeinsam die Tür.
»Habt ihr schon auf uns gewartet?«, fragt Amy lachend.
»Oh, mein Schatz, du weißt ja gar nicht, wie sehr!«, ruft Evelyn freudig und schließt sie in die Arme.
Es riecht bereits nach Eiern und Speck, nach Pfannkuchen, Toast und Kaffee. Wir setzen uns gemeinsam an den reich gedeckten Frühstückstisch. Evelyn schenkt jedem von uns ein großes Glas frisch gepressten Orangensaft ein.
»Kein Morgen ohne Orangensaft, oder?«, fragt sie, und Amy erwidert ihren Blick mit vollgestopften Wangen. Evelyn lacht. »Jenny und Sam haben sich schon gewundert, dass die Auswahl heute so üppig war, aber ich dachte, so etwas muss doch bei einem vernünftigen Frühstück gefeiert werden, nicht wahr?«
Peter und Evelyn sind überglücklich, und ich gönne ihnen und Amy dieses Glück von Herzen.
Dennoch schweifen meine Gedanken an diesem Tag immer wieder zu Tom und Kristin, die genau jetzt in ihrem kleinen, eingeschneiten Häuschen sitzen und mit ihren Gedanken bei ihrer Tochter sind. Seit unserer Ankunft hier haben sie nichts mehr von uns gehört. Schuldbewusst wird mir klar, dass sie nach den gestrigen Ereignissen einen unverzüglichen Anruf verdient hätten, und ich beschließe, sie am Abend anzurufen und ihnen ausgiebig Bericht zu erstatten.
Ob Amy wohl auch ein bisschen an die beiden denkt? Momentan wahrscheinlich nicht. Sie sitzt neben mir an dem runden Mahagoni-Tisch und lauscht kauend den Erzählungen ihres Vaters, der begeistert von dem Riesenfisch erzählt, den er bei seiner letzten Angeltour gefangen hat. Amy sieht aus, als wäre sie angekommen. Daheim! Und in mir wächst die Unruhe.
Was wohl passieren wird, wenn wir in ein paar Tagen wieder abreisen?
»Sagt mal, wo ist eigentlich mein Grab?«, fragt Amy plötzlich ohne jeden Zusammenhang. Mit einem Schlag verstummt das Lachen ihrer Eltern. Peter verschluckt sich fast an seinem Pfannkuchen. Schnell trinkt er einen Schluck Orangensaft und bewahrt sich damit vor einem größeren Hustenanfall.
»Es gibt kein Grab, Amy«, sagt Evelyn. Sie erhebt sich und nimmt ein größeres, weißes Gefäß von der Anrichte. »Das … ist deine Asche. Wir wollten dich bei uns wissen. Nach allem, was du durchgemacht hattest … ich meine …«
Sie holt tief Luft. Die folgenden Worte scheinen ihr nur sehr schwer von den Lippen zu gehen. »Du lagst auf diesem kühlen Waldboden. Deine Beine waren braun von der Erde, und selbst unter deinen Fingernägeln hattest du Moos und Erde. Wir brachten es nicht fertig, dich zu vergraben.«
Langsam, fast ehrfürchtig, streckt Amy ihre Hände aus und greift nach dem Gefäß, das irgendwie gar nicht wie eine klassische Urne aussieht. »Eine Bonbonniere?«, fragt sie verwundert.
»Ja.« Peter grinst schmerzlich. »Weil
Weitere Kostenlose Bücher