Deine Seele in mir /
dem Schicksal weniger ergeben war als seine Frau. Ich beobachtete Julie genau. Sie aß eine Schnitte Brot mit Schinken und Tomaten und eine weitere mit Käse. Als sie etwa die Hälfte dieser zweiten Schnitte gegessen hatte, legte sie den Rest des Brotes abrupt auf ihrem Teller ab und verfiel sofort wieder in ihr Geschaukel.
»Sie isst immer dasselbe, jeden Abend. Nachdem sie genau fünfmal von dem Käsebrot gebissen hat, legt sie es ab, wie ein Stück heiße Kohle«, erklärte Kristin mir.
Als ich Julie nun so vor dem flackernden Kamin sitzen sehe, frage ich mich wieder einmal, was wohl in ihrem Kopf vorgeht. Ich verfolge ihren Blick bis in die lodernden Flammen, die miteinander um Dominanz zu kämpfen scheinen. Was Julie dort wohl sieht? Sieht sie überhaupt etwas davon?
Mir wird klar, dass unsere Situationen gar nicht so unterschiedlich sind, wir sitzen nur auf unterschiedlichen Seiten. Vermutlich sieht sie ebenso viel von den Flammen wie ich von ihr. Denn eins steht für mich fest: Das, was wir von Julie wahrnehmen, ist nicht das, was sie wirklich ausmacht. Aber wo ist der Rest, dieser entscheidende Teil von ihr?
Ihr Gesicht wirkt nach wie vor wie das einer Puppe auf mich. Sehr hübsch, zweifellos, aber völlig leblos und ohne irgendein Merkmal, welches unverkennbar nur zu ihr, nur zu Julie, gehört.
Ausdruckslos und leer sieht sie aus.
Irgendetwas regt sich in diesem Moment tief in mir. Etwas, das dieses Bild von Julie einfach nicht als endgültig akzeptieren will.
»Also, was brauchst du für deine Massage, Matt?«, fragt Kristin plötzlich und holt mich damit aus meiner geistigen Versenkung.
Erst jetzt bemerke ich, dass wir die letzten Minuten wohl schweigend miteinander verbracht haben.
»Was, jetzt sofort?«, frage ich überrumpelt.
»Nicht?«, erwidern Tom und Kristin wie aus einem Mund.
»Doch!«
Ich schaue mich um. Da das Sofa nach wie vor von Tom besetzt ist, bleibt nur der Fußboden.
»Kristin, hast du ein paar Decken? Die könnten wir auf den Teppich legen und Julies Oberkörper mit Kissen stützen, damit sie bequem und möglichst entspannt liegt.«
Kristin nickt.
»Gut.«
Sie trägt einige Decken und Kissen zusammen, und ich lege alles so hin, dass wir Julie bequem und zweckmäßig darauf betten können.
»Ich brauche noch etwas aus meinem Auto«, erkläre ich, als alle Vorbereitungen getroffen sind.
»Okay. In der Zeit ziehe ich Julie schon mal aus«, erwidert Kristin.
»Mach nur ihren Oberkörper frei. Wenn sie einen BH trägt, dann reicht es aus, wenn du ihn öffnest und die Träger herabstreifst.«
Es ist schon irgendwie peinlich, der Mutter einer erwachsenen Patientin solche Anweisungen zu geben. Mein standardmäßiges: »Machen Sie sich schon mal oben herum frei«, hat emotional betrachtet rein gar nichts damit zu tun.
Auch Kristins Unbehagen entgeht mir nicht. Wieder bereue ich ein wenig, diesen Vorschlag überhaupt gemacht zu haben, doch jetzt gibt es kein Zurück mehr. Als ich mit dem Koffer mit meinen Massageölen zurückkomme, liegt Julie bereits bäuchlings auf den Decken.
Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr sich Kristin beeilt haben muss, sie zu entkleiden. Dabei habe ich mir extra viel Zeit gelassen. Den BH ihrer Tochter hat Kristin geöffnet und die Träger so weit es ging über Julies Arme herabgestreift. Ich reihe die Fläschchen mit den verschiedenen Duftölen nebeneinander auf dem Couchtisch auf.
»Gibt es einen Geruch, den Julie besonders mag?«, frage ich dabei routinemäßig. Als mir die Gedankenlosigkeit meiner Frage bewusst wird und ich schuldbewusst aufblicke, sehen Tom und Kristin mich gleichermaßen betrübt wie ahnungslos an.
»Entschuldigt bitte«, murmele ich und ärgere mich dabei maßlos über meine Schusseligkeit.
Dann knie ich mich neben Julie nieder und schaue auf sie herab. Ihren Eltern habe ich nun den Rücken zugewandt. Das war Absicht, denn es ist besser, wenn sie mein Gesicht nicht sehen können.
Ich schließe meine Augen und atme noch einmal tief durch.
Wie aus der Perspektive eines Dritten sehe ich mich selbst: über die halbnackte, regungslose Julie gebeugt, mit geschlossenen Augen. Eine eigenartige Situation.
Konzentration, Matt!, fordere ich mich insgeheim auf.
Als ich es endlich schaffe, mich geistig von meinem eigenen Bild zu lösen, dauert es nicht lange und ich sehe das Einzige, was in diesem Moment wirklich zählt: Julie.
Honig ... Kiefernnadeln ... Lavendel ... Sonnenblumen – ja, das ist sie. Ich bin mir sicher, die
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