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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Ernst
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hässlich – unter meinen Händen sind sie alle gleich. Ich massiere ihre Knoten weg und knete das verhärtete, schlecht durchblutete Gewebe durch, mache es wieder warm und weich. Und als ob ich mit diesen scheinbar groben, aber dennoch wohltuenden Berührungen eine Pforte zu der Seele dieser Menschen öffnete, beginnen sie, mit mir zu sprechen.
    Früher oder später reden sie alle. Nicht die Patienten direkt, sondern hauptsächlich das Unterbewusstsein dieser Menschen verrät mir dann ihre tiefsten Geheimnisse. Ich sehe, was sie bewegt, und sie erzählen von ihren Freuden und ihrem tiefsten Kummer. Die Geschichten sind dabei so unterschiedlich wie das Leben und die Menschen selbst.
    Die meisten Patienten schließen bald ihre Augen und genießen die Ruhe, um sich auf sich selbst, auf ihr tiefstes Inneres, zu konzentrieren.
    Ich tue dasselbe. Ich richte meinen Fokus einzig und allein auf diesen einen Menschen, der unter meinen Händen liegt. Auf seine Haut, seine Muskeln, den pulsierenden Blutfluss in seinen Adern, seinen Atem, seinen Geruch, seinen Herzschlag – und dann, früher oder später, verschmelze ich mit ihm, und er öffnet sich mir, ohne es zu ahnen, in einer unbewussten Weise.
    Das ist der Moment, in dem unser eigentlicher Dialog beginnt – wenn seine Seele zu mir spricht.
    Auf diese Art erfahre ich mitunter die intimsten Begebenheiten und die vertraulichsten Geheimnisse meiner Patienten, ohne sie jemals danach zu fragen.
    Eine gute Massage ist wie eine Offenbarung
, habe ich einmal gelesen, und das scheint es genau zu treffen.
    Wenn sich die Pforte zu den Seelen meiner Patienten öffnet, dann weiß ich genau, nach welchen Ölen ich greifen muss, ob ich sie rein verwenden oder besser miteinander vermischen soll, wo ich meine Hände ansetzen muss und wie stark der Druck meiner Finger zu sein hat, um die beste Wirkung zu erzielen.
    In diesen Momenten bin ich ein wenig wie Julie: Ich weiß, ohne zu lernen.
    Dieses Wissen geht so weit, dass mich die Entdeckung meiner Gabe zunächst sehr erschreckte.
    Denn ich sehe die Erlebnisse, die den Verspannungen und Schmerzen meiner Patienten zugrunde liegen, bildlich vor mir. So ist es mir möglich, meine Behandlung am Ursprung anzusetzen. Und die Wurzel eines jeden chronischen Leidens habe ich bisher immer in den verwundeten Seelen der Menschen gefunden.
    Das ist mein Geheimnis.
    »Oh, Gott, Mr Andrews, wenn ich schon sterben muss, dann möchte ich bitte unter Ihren Händen sterben. Das wäre wirklich ein seliger Tod.« Mrs Jordan seufzt gewohnt theatralisch.
    Ich freue mich zwar, dass sie wenigstens hier die Möglichkeit findet, sich ein wenig zu entspannen, doch dieser selige Zustand, von dem sie spricht, hält leider nicht lange an und erreicht bei ihr auch nie die erfolgverheißende Tiefe.
    »Mein Mann könnte wirklich etwas von Ihnen lernen. Jack hat nicht die leiseste Ahnung davon, wie man eine Frau anfassen sollte … ich wette, Sie dagegen …« Sie zögert, jedoch nur kurz. »… Sie sind bestimmt phantastisch im Bett. Das soll keine plumpe Anmache sein, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ein Mann, der diese Dinge mit seinen Händen tun kann ...«
    Ich unterbreche sie mit einem kurzen Lachen und ärgere mich, dass es so nervös klingt.
    Schnell gebe ich ihr die Anweisung, nun still zu liegen und den Kopf ein wenig stärker zu neigen, ohne dass das für meine Massage von Bedeutung wäre, nur mit dem einen Ziel, sie von weiteren Lobeshymnen abzuhalten. Es funktioniert tatsächlich.
    Mrs Jordan gibt mir ein paar stille Minuten, doch es will mir einfach nicht gelingen, mich voll und ganz auf sie zu konzentrieren.
    Immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Es dauert nicht lange, da tragen sie mich endgültig davon – und setzen mich bei Tom und Kristin ab. Wie sehr sich ihr Leben doch von Mrs Jordans unterscheidet.
    Nur noch selten, wenn ihre Schmerzen sehr stark sind, behandle ich diese schwierige Patientin in meinem speziellen, fast schon tranceartigen Zustand. Die Wurzel ihres Übels lässt sich nicht herausreißen, denn sie erwächst aus Mrs Jordan selbst. All die körperlichen Beschwerden finden den Ursprung in ihrer unbändigen Unzufriedenheit, für die ich keine Ursache ausmachen kann. Ich kann lediglich versuchen, ihre Schmerzen zu lindern. So beschränken sich meine Methoden bei ihrer Behandlung auch heute wieder auf die eines jeden anderen Masseurs. Mrs Jordan dreht sich ständig um sich selbst, hechtet dem vermeintlichen Glück hinterher und wird

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