Deine Seele in mir /
in den Augen hat, auch ohne sie zu sehen.
Ja, Julie spürt etwas, und sie zeigt eine eindeutige Reaktion.
Erleichterung macht sich in mir breit und wandelt sich in Mut.
Nun fühle ich mich bereit dazu, meine Augen zu schließen und mich tief in sie hineinzufühlen. Meine Hände bewegen sich automatisch, ohne dass ich ihnen weitere Beachtung schenke.
Die Berührungen, mit denen ich Julie massiere, sind in keinem Lehrbuch zu finden. Vielleicht wirken sie sogar willkürlich oder laienhaft, und doch basieren sie auf der für mich größten Erkenntnis von allen. Denn irgendwann habe ich gelernt, dass meine Massagen nur im gleichen Maß funktionieren wie meine Empathie.
Wenn es mir besonders gut gelingt, mich in meine Patienten einzufühlen, dann sehe ich nicht nur, was diesen Menschen widerfahren ist, sondern ich spüre es so, wie sie es empfunden haben. Als würde ich meinen Körper verlassen und für die Dauer der Massage den meines Patienten nutzen.
Noch nie habe ich diese Fähigkeit ausgenutzt. Als mir bewusst wurde, zu was ich in der Lage bin, hatte ich noch nicht einmal meinen zehnten Geburtstag gefeiert. Die Gabe erschien mir wie ein Fluch, der mich auch noch mit dem Leid anderer konfrontierte, und ich beschloss, dieses Geheimnis zu bewahren und keinen Gebrauch davon zu machen. Doch später, als meine Eltern starben, wurde mir klar, dass ihr Lebensmotto die Botschaft war, die sie mir hinterlassen hatten: Reichtum, egal in welcher Form, ist kein Privileg, sondern eine Verpflichtung. Es dauerte, bis ich meine Gabe verstand. Bis ich begriff, dass ich sie nicht einfach so besaß, sondern zu einem bestimmten Zweck. Ich beschloss, Physiotherapeut zu werden und zu helfen. Uneigennützig.
Bis heute.
Denn nun brenne ich förmlich darauf, Julies Seele kennenzulernen.
Ich spüre ihre weiche Haut unter meinen Fingerspitzen, rieche den Duft ihrer Haare und sehe ihr Gesicht vor mir. Ihren Mund, der diesen geheimnisvollen Singsang von sich gibt, ihre schönen hellgrünen Augen, die starr vor sich hinblicken und doch nichts zu sehen scheinen. Ich durchlebe noch einmal, was mir am ersten Tag unserer Begegnung passiert ist. Diese plötzliche Wandlung in ihren Augen, die fast schon erschreckende Tiefe ihres Blickes, ihr Lächeln. All meine Gedanken bündeln sich und drehen sich schließlich nur noch um Julie.
Schon bald beginne ich abzudriften. Alles um mich herum wird dunkel, zerfließt ... und dann ... sehe ich sie plötzlich wieder.
Julie.
Zunächst ist sie nur ein winziger Punkt am Horizont, doch sie läuft, so schnell sie nur kann, auf mich zu – über eine weite Wiese, die mit gelben und violetten Blumen bespickt ist. Sie trägt eine Jeans und eine schlichte rote Bluse, ihre Haare wehen offen im Wind. Das alles Entscheidende aber ist: Sie lacht!
Julie lacht fröhlich, frei und ungehemmt. Sie rennt immer weiter auf mich zu, bis sie mir ungebremst in die Arme fliegt. Ihr Schwung schmeißt mich um. Übereinander landen wir im hohen Gras. Julie lacht noch immer.
Als sie mich ansieht, fühle ich mich unglaublich vertraut mit ihr. Ihre Augen strahlen.
»Endlich«, sagt sie mit einem erleichterten Seufzen und drückt ihren Kopf gegen meinen Brustkorb. Starr vor Schock traue ich mich nicht, mich zu rühren. »Danke, Matt«, höre ich sie noch flüstern, doch in diesem Moment fühle ich, wie irgendetwas an mir reißt und mich unter ihr wegzieht. Julie schreckt hoch, ihr Gesichtsausdruck schwankt zwischen Angst und Verzweiflung.
Mit ausgestreckten Armen versucht sie, nach mir zu greifen, doch ich entferne mich immer weiter und immer schneller von ihr, bis sie erneut nichts weiter als ein winziger Punkt am Horizont ist.
Es wird dunkel. Als die Realität mich zurückhat, und ich die Augen öffne, packt mich die Erschöpfung mit überwältigender Kraft.
Schnell stütze ich mich links und rechts von Julies Rücken ab, um nicht auf sie zu fallen. Mein Herz rast, und auch mein Atem geht sehr schnell und flach. Verwirrt versuche ich, mich zu sammeln.
Was war das?
Normalerweise zeigen mir meine Visionen, wo ich meine Behandlung ansetzen muss, aber bei Julie hatte ich keine Hinweise erkannt. Sie hatte mich jedoch bemerkt. Warum?
Niemals zuvor war jemandem meine Anwesenheit aufgefallen.
Plötzlich frage ich mich, was ich während dieses Abdriftens wohl getan habe. Habe ich Julie überhaupt weitermassiert? Ich komme nicht dazu, lange zu grübeln.
»Oh, Gott, wie kann das sein?«, fragt Kristin tonlos. Sie steht direkt neben
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