Deine Seele in mir /
nun schon etwas älteren Jungen auf ihrem Schoß hält ... der Junge und ein Mädchen beim Picknick auf einer weiten Sommerwiese ... der Junge mit demselben blonden Mädchen am Bach ... und so weiter und so weiter.
»Das bist du, nicht wahr? Der Junge auf diesen Bildern.«
Ich nicke. Erst nach einigen Minuten unterbricht Kristin die drückende Stille erneut. »Ich verstehe nicht ...«
»Schau einfach weiter«, weise ich sie an.
Sie nickt und blättert um. Wohl scheint ihr dabei nicht zu sein. Jedes Foto betrachtet sie intensiv, augenscheinlich auf der Suche nach Hinweisen, die mein eigenartiges Verhalten begründen könnten.
Noch nicht, Kristin, ein paar Jahre bleiben uns noch, denke ich.
Der Junge auf den Bildern wird immer älter; das blonde Mädchen wächst mit ihm. Jedes einzelne Foto ist das Zeugnis einer unbeschwerten, glücklichen Kindheit. Bis ...
»Oh, mein Gott«, haucht Kristin plötzlich. Ja, bis zu diesem Tag, von dessen Schrecken der Zeitungsartikel berichtet, auf den sie nun gestoßen ist.
Saint Toulouse: Kleines Mädchen vergewaltigt und brutal ermordet,
lautet die Schlagzeile. Und darunter, etwas kleiner:
Gleichaltriger Spielkamerad überlebt schwer verletzt und traumatisiert. Der neunjährige Junge musste alles mit ansehen.
Es dauert länger, als ich erwartet hatte, bis überhaupt eine Reaktion von Kristin kommt.
»Matt, was ...?«, stammelt sie schließlich.
»Hol den Artikel raus«, presse ich hervor.
Es erfordert meine gesamte Konzentration, meiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu verleihen.
Kristin löst den zusammengefalteten Artikel aus der Lasche und faltet ihn auf. Im unteren Teil wird ein Bild sichtbar.
Die Idylle trügt. Ein brutales Verbrechen ereignete sich gestern morgen im Schutz dieses hohen Feldes,
steht darunter.
Die Schwarzweißaufnahme zeigt das weite Sonnenblumenfeld und die dahinterliegenden Häuser unserer Siedlung.
Die Perspektive stimmt, und auch ohne die Farben, die diese Landschaft eigentlich erst ausmachen, erkennt Kristin sofort das Motiv von Julies Gemälde.
»Oh, Gott«, sagt sie erneut und schlägt die Hände vor dem Mund zusammen. »Das ist Julies Bild«, flüstert sie fassungslos.
»Nein«, erwidere ich kopfschüttelnd, »etwas fehlt. ... etwas Entscheidendes.« Langsam schlage ich ein paar Seiten in dem Album zurück, auf eines der letzten Bilder, die Amy und mich im Spiel zeigen.
»Wir beide fehlen. Julie hat ...
uns
gemalt.«
»Moment! Das bist
du
auf ihrem Bild? Mit diesem kleinen Mädchen, das ... ermordet wurde?«
Ihr Blick wandelt sich. Mitleid verwischt den Schock, als sie versucht, mein Leid zu erfassen. Chancenlos, natürlich.
»Amy«, bestätige ich. Gott, allein ihren Namen auszusprechen schmerzt schon so sehr. Fest presse ich die Lippen aufeinander und zucke im selben Moment zusammen. Ein Stechen in meiner linken Hand macht mir bewusst, dass ich wieder begonnen habe, an den Innenseiten meines verbundenen Daumens zu kratzen. Schnell setze ich mich auf meine Hände.
Kristin schweigt. Sie hat die Augen geschlossen; Tränen rinnen ihr über die Wangen. »Amy«, wiederholt sie schließlich leise.
Ihren Namen zu hören ist nicht weniger schmerzhaft als ihn auszusprechen. Plötzlich sieht Kristin zu mir auf. »Julie malt seit über fünfzehn Jahren immer wieder dieses eine Motiv. Zunächst noch kindlich, dann immer ausgereifter. – Warum tut sie das, Matt?«
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich, der Wahrheit entsprechend, noch bevor mich die Bedeutungsschwere von Kristins Frage erreicht.
»Sie malt immer nur dieses
eine
Bild?«, wiederhole ich, als die Worte gesackt sind. Kristin nickt. Eine Weile grübeln wir stumm nebeneinander her.
»Es muss eine Erklärung geben. Vielleicht hat Julie etwas gesehen.
»Einen Zeitungsbericht oder etwas in den Nachrichten, was sie wahrgenommen hat und was sie sehr bewegt hat«, mutmaße ich schließlich.
»Ja, vielleicht.« Kristin zieht die Schultern hoch.
Es ist bestimmt keine Erklärung, an die wir beide ernsthaft glauben, doch momentan die einzige, zu der wir uns in der Lage sehen und somit belassen wir es vorerst bei dieser bewussten Halbherzigkeit.
Kristin faltet den Artikel wieder zusammen.
»Matt?«, fragt sie plötzlich. Ihre Stimme bebt. Gebannt starrt sie auf das graue Stück Papier in ihren Händen. »Über dem Datum ist ein Fleck«, erklärt sie kurz. »Wann … wann ist es passiert?«
Ich muss nicht lange überlegen, um mich an das schlimmste Datum meines Lebens zu
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