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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Ernst
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zur Genüge da war. Julie wurde geboren, und unser Leben schien perfekt zu sein.«
    Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie sich den Erinnerungen an die guten Zeiten hingibt, doch im nächsten Moment erlischt das Leuchten ihrer Augen schon wieder, und plötzlich wirkt sie so matt und kraftlos, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe.
    »Dann bekamen wir die Diagnose des Facharztes: Autismus.« Kristin schluckt schwer, doch sie reißt sich zusammen. »Es war nicht so, dass es uns unerwartet traf. Wir wussten schon vorher, dass etwas nicht stimmen konnte. Julie sah uns nicht an, wenn wir mit ihr redeten oder spielten. Sie erwiderte mein Lächeln nicht und streckte uns niemals, wie all die anderen Babys ihres Alters, ihre Ärmchen entgegen. Wenn ich mich beim Wickeln über sie beugte, um mit ihr zu kuscheln oder um auf ihr Bäuchlein zu pusten, bekam sie schreckliche Schreianfälle, die sich mit der Zeit zu regelrechten Krämpfen steigerten. Das alles war ... sehr schwer, Matt.«
    Kristin schluckt erneut vor Kummer und setzt dann ein tapferes Lächeln auf – wie so oft, wenn sie von Julie spricht. »Es war unkontrollierbar und nicht aufzuhalten: Julie entfernte sich mit jedem Tag, manchmal sogar von einer Minute auf die andere, immer weiter von uns. Unwiderruflich, als würde ihre kleine Seele einfach absterben.
    Die Menschen, die wir als Freunde bezeichneten und die uns durch all die guten Jahre euphorisch begleitet hatten, wandten sich zunehmend von uns ab. Sie schienen schon peinlich berührt zu sein, wenn sie uns per Zufall mit Julie auf der Straße begegneten. Ich verstehe, dass sie nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten, aber anstatt einfach zu fragen, entschieden sich die meisten, unser Kind schlichtweg zu ignorieren. Sie taten wirklich so, als wäre Julie gar nicht da, als wäre sie Luft. Einmal verlor ich die Geduld und warf einer Freundin dieses furchtbare Verhalten vor, doch sie sagte nur: ›Aber Kristin, Julie kriegt doch wirklich nichts mit. Warum regst du dich so auf, wenn ich sie nicht begrüße?‹ – Kannst du dir vorstellen, wie sehr mich diese Worte trafen, Matt?«
    Nein, das kann ich nicht. Wahrscheinlich nicht mal annähernd. Dennoch hat sich bereits ein dicker Kloß in meinem Hals gebildet, und ich senke erneut meinen Blick.
    »Ich wollte niemanden mehr in eine peinliche Situation bringen, und so verbrachte ich immer mehr Zeit zu Hause. Ich schottete mich völlig ab. Tom ging nach wie vor arbeiten, aber ich blieb bei Julie und kümmerte mich um sie. Es hätte sich wie Verrat an meiner Tochter angefühlt, wäre ich weiterhin in Kontakt zu den Menschen geblieben, die Julie einfach nicht beachteten. Also blieb ich bei ihr und versuchte, immer für sie da zu sein. Sie hatte ja scheinbar nur uns. Mit der Zeit litt unsere Ehe. Unser Glück zerbröckelte Stück für Stück. Ich bekam einen Nervenzusammenbruch, als Julie acht Jahre alt war. Danach besuchten Tom und ich eine Eheberatung. Der Psychologe empfahl uns, Julie in ein Heim für geistig Behinderte zu geben. Wir waren so verzweifelt zu diesem Zeitpunkt, dass wir es wirklich versuchten.«
    Kristin schüttelt den Kopf. Vermutlich verzeiht sie sich diese Entscheidung bis heute nicht.
    »Julie war nicht mal eine Woche in diesem Heim, da holten wir sie zurück nach Hause. Seitdem ziehen Tom und ich gemeinsam an einem Strang. Tom beschloss, sich künftig allein auf die Architekturplanungen zu beschränken und seinem Beruf von daheim aus nachzugehen. Da wir uns in der Stadt sowieso schon lange nicht mehr daheim fühlten, beschlossen wir, aufs Land zu ziehen, als Julie siebzehn wurde. Das war schon immer unser Traum gewesen, und wenigstens den wollten wir uns erfüllen. Seitdem leben wir so abgeschottet in unserem kleinen Haus – ohne jede Hilfe. Außer meiner Schwester, die uns zu Weihnachten und manchmal auch im Sommer besucht, haben wir fast keinen Kontakt zur Außenwelt. Sicher, wir kaufen ein, gehen zur Post und zum Arzt, in die Bücherei und zum Bäcker. Aber wir knüpfen keine engeren Kontakte mehr. Wir sind allein – seit Jahren.«
    Das vorläufige Ende von Kristins Geschichte klingt traurig und anrührend. Ernst sieht sie mich an und umfasst dann so behutsam meine Handgelenke mit ihren zierlichen Fingern, dass ich mich ohne jede Überlegung neben ihr niederlasse.
    »Und dann kommst du, Matt. Nach einundzwanzig Jahren, wie aus dem Nichts. Und du interessierst dich, schaust hin und fragst nach, wo alle anderen immer nur weggesehen

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