Deine Seele in mir /
legt sie ihren Mantel und ihre Tasche ab und lässt sich von mir ins Wohnzimmer lotsen.
»Schön hast du es hier«, sagt sie. Höflich, nicht ehrlich.
»Nein, habe ich nicht.« Ich grinse sie matt an. Meine Wohnung ist weder gemütlich noch stilvoll, und bestimmt ist sie alles andere als
schön.
Die Möbel sind wild durcheinandergewürfelt, rein zweckgebunden und auf Einsamkeit ausgelegt. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Bett.
Überall liegen Bücher – in Ermangelung von Regalen zu gigantischen Stapeln aufgetürmt –, die in ihrer Masse wohl auf mein enormes Leck an zwischenmenschlichen Beziehungen schließen lassen. Ansonsten sind die Räume sehr kahl und ohne jede persönliche Note eingerichtet.
Auch wenn ich hier nun schon seit über vier Jahren wohne, ist dieses Appartement in meinem Bewusstsein nichts anderes als eine Übergangslösung.
»Nein, hast du nicht«, gibt nun auch Kristin mit einem Schmunzeln zu. Ein wenig verlegen streicht sie sich die dunklen Haare hinter die Ohren. Elegant, wie immer.
»Ordentlich, ja«, fährt sie fort; ihr Ton wird mutiger, » ... aber weit entfernt von gemütlich! Nach den geschmackvollen Sachen, die du Julie vorhin geschenkt hast, hätte ich ehrlich gesagt mehr erwartet. Hier fehlt eindeutig eine Frau.«
»Mag sein.« Beschämt fahre ich mir über die Stirn.
Kristin, die meine Bewegungen verfolgt, schrickt zusammen. »Matt, was ist denn mit deinem Daumen passiert?«
Noch bevor ich meine Hand wegziehen kann, greift sie danach und schaut sich dann auch die andere an. Als könne sie meine Schmerzen fühlen, bekommt ihr Gesicht einen gequälten Ausdruck.
»Es ist nichts«, versuche ich abzuwehren. Vergeblich.
»Das ist alles andere als
nichts
, Matt«, tadelt sie mich in einem strengen Ton, der die Sorge in ihren Augen jedoch unangetastet lässt.
Diese Mischung aus sanfter Härte und ernsthafter Fürsorge ruft alte Erinnerungen in mir hervor, und für einen kurzen Moment verschwimmt Kristins Gesicht vor mir und wird zu dem meiner Mutter.
Nur ein einziges Blinzeln, und Kristins bestimmter Tonfall holt mich zurück. »Das ist offenes Fleisch, Junge. Hast du Verbandszeug?«
Ich weise mit der Nasenspitze auf die offen stehende Badezimmertür – Kristin hält meine Hände noch immer, und zu sprechen ist mir zu mühselig.
Sekunden später durchwühlt sie meinen Medizinschrank, bis sie hat, was sie braucht. Sie setzt sich auf die Couch und bedeutet mir stumm, neben ihr Platz zu nehmen.
In absoluter Stille verarztet sie meine Daumen. Als sie das letzte Stück Pflaster verklebt hat, führt sie meine Finger an ihren Mund und küsst meinen Handrücken, als wäre ich fünf.
Wäre ich doch noch einmal fünf!
»So«, flüstert sie. »Und jetzt erzählst du mir, was mit dir los ist. Warum bist du getürmt?« Obwohl ich mit einer solchen Frage gerechnet hatte, trifft mich die Art, wie Kristin sie mir stellt, unvorbereitet. Sie wirkt so liebevoll, so ernsthaft besorgt, so ... verdammt mütterlich.
Unfähig, mit dieser zu lange entbehrten Art der Fürsorge umzugehen, springe ich auf. »Kristin, ich ... ich kann nicht. Du würdest es nicht verstehen.«
»Versuche es!«
Ich sehe auf sie herab, doch als mein Blick auf ihren trifft, senke ich den Kopf und starre meine Füße an.
»Na gut«, unterbricht Kristin die nervenzehrende Stille nach einer gefühlten Ewigkeit. »Wenn du nicht kannst, dann mache ich eben den Anfang.«
Sie atmet tief durch, und ich ahne, dass sie sich auf einen längeren Monolog vorbereitet. Gut! Zuhören kriege ich hin – wenn ich bloß selbst nichts erklären muss.
»Vor einundzwanzig Jahren hatten Tom und ich noch ein scheinbar gesundes Baby«, beginnt Kristin leise. Ihren Blick richtet sie auf ihre gefalteten Hände, die in ihrem Schoß zu ruhen scheinen. Doch ich sehe, wie verkrampft ihre Finger sind. Die Knöchel treten weiß hervor, also fällt auch ihr das Sprechen nicht leicht.
Doch
sie
spricht.
»Julie war bezaubernd ... hübsch und lieb, einfach zuckersüß – unser heiß ersehntes Wunschkind. Wir hatten einige Jahre versucht, Kinder zu bekommen – immer wieder ohne Erfolg. Ich erfuhr von meiner Schwangerschaft, als ich bereits im vierten Monat war. Es grenzte an ein Wunder für uns.
Tom arbeitete damals als Architekt und Bauleiter. Er war sehr erfolgreich, hatte viele große Aufträge. Wir lebten in einem alten Stadthaus. Sieben Zimmer auf zweihundert Quadratmeter, für uns allein. Geld war nie ein Thema – einfach, weil es immer
Weitere Kostenlose Bücher