Deine Seele in mir /
mir auftut, gefällt mir nicht, und doch birgt er wenigstens die vage Chance auf mehr Klarheit in sich. Ich werde mich wohl oder übel noch einmal in diesen tiefen Bewusstseinszustand versetzen müssen, in der Hoffnung, dass Julie mir erneut den Eintritt in ihre Welt gewährt.
Nein, Hoffnung ist das falsche Wort, Befürchtung trifft es eher. Denn ich verspüre keine große Lust dazu, meine alten Wunden wieder aufzureißen. Doch genau darauf wird es wohl hinauslaufen. Seit Julie in mein Leben getreten ist, wühle ich andauernd in meiner bislang so sorgfältig verdrängten Vergangenheit herum.
Das schmerzhafte Pochen meiner Daumen verdeutlicht mir auch jetzt, in ruhender Position, dass die alten Wunden längst aufgerissen sind.
Von hier aus gibt es kein Zurück mehr. Ich
muss
erfahren, was Julie weiß, und selbstverständlich auch,
woher
sie es weiß. Auch wenn ich mich dieser Logik nur widerwillig beuge – als die Entscheidung getroffen ist, werde ich endlich ruhiger.
Noch einmal tragen mich meine Gedanken ein paar Stunden zurück: Kristin war am Ende unserer Unterhaltung so geschockt gewesen, dass sie sogar die unbeantwortete Frage nach meiner Vision hatte fallen lassen.
Woher sie wusste, dass ich überhaupt etwas gesehen hatte, was außerhalb ihrer Wahrnehmung lag, konnte ich mir nicht erklären. Weibliche Intuition vielleicht? Oder mütterliche? Wie auch immer, sie hatte nicht mehr nachgefragt, und von mir aus hatte ich mein Geheimnis auch nicht preisgegeben.
Die kommenden Tage werden uns nun den Abstand geben, den wir wohl alle brauchen, um wie bisher weiterzumachen.
Das schlechte Gewissen schüttele ich erfolgreich ab. Schließlich hat Kristin durch ihre Schwester Hilfe mit Julie.
Als meine Lider endlich zu schwer werden, um sie weiter offen zu halten, falle ich in wirre Träume. Sie tragen mich direkt zu Julie Kent.
Bildschön liegt sie im hohen Gras der Blumenwiese. Sie lächelt; ihr blasses Gesicht wirkt nahezu engelsgleich – selig und alles andere als ausdruckslos. Langsam, mit aller Vorsicht, lasse ich mich neben ihr nieder und lehne mich zurück.
Unmessbare Zeit liegen wir im warmen Sonnenschein, schweigend, sehen uns einfach nur an. Schließlich wendet sie sich mir zu und streichelt sanft über die Narbe an meiner Stirn.
»Ich wusste, dass sich das Warten lohnen würde, Matt«, flüstert sie.
Schweißgebadet schrecke ich auf.
Am Morgen nach dieser Nacht fühle ich mich wie gerädert. Meine Nachtlampe brennt noch immer. Als ich mir gerade einen Kaffee gemacht habe – heute extrastark –, höre ich ein eigenartiges Scharren vor der Tür. Ich öffne, blicke hinab und sehe direkt in große, strahlend blaue Augen.
»Mary?«
»Mist!« Enttäuscht sieht sie zu mir auf. »Ich meine – frohe Weihnachten! Ich wollte eigentlich gar nicht, dass du mich bemerkst. Sollte eine Überraschung sein.« Ein wenig verlegen erhebt sie sich und hält mir ein kleines Päckchen unter die Nase.
»Ähm ... danke.« Mehr bringe ich nicht heraus.
»Mach es auf«, fordert sie fröhlich. Mary strahlt über das ganze Gesicht. Wieder einmal ist sie so euphorisch und positiv, dass es ihr tatsächlich gelingt, mich binnen Sekunden aus meiner erbärmlichen Verfassung zu reißen. Seit unserem gemeinsamen Einkauf hat sich unser Verhältnis verändert. Über die letzten Wochen und mehrere gemeinsam verbrachte Mittagspausen ist sie von einer guten Kollegin zu einer Art Freundin geworden.
Mach, dass sie bleibt!, ruft alles in mir.
»Bitte, Mary, komm doch rein. Ich mache dir auch einen Kaffee, ja? Magst du Kekse?« Noch bevor sie antworten kann, bemerke ich mein Versäumnis. »Dir natürlich auch frohe Weihnachten«, füge ich schnell hinzu.
»Reinkommen, ja – Kaffee, nein«, verkündet Mary.
Stimmt, sie macht uns zwar jeden Morgen ihren frisch gemahlenen, köstlichen Kaffee, selbst trinkt sie jedoch nie einen.
»Tee?«, frage ich und hoffe, dass sie einwilligt, denn wesentlich mehr habe ich nicht da.
»Wasser!«
Gut, dafür reicht es noch.
Und dann schaut sich auch Mary etwas befremdlich in meiner Wohnung um, während ich unbeholfen in meiner Küche herumhantiere. Meine Güte, so viel Besuch wie seit gestern hatte ich im gesamten vergangenen Jahr nicht. Traurig, aber wahr.
Bevor sich Mary aus der Situation heraus gezwungen sieht, mir Lügen über meine «nette« Wohnung aufzutischen, befreie ich sie gnädig.
»Sag nichts! Ich weiß, dass ich in einer Bruchbude lebe, aber es ist nur eine Zwischenlösung.« Ein
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