Deine Seele in mir /
einen kurzen Kuss auf die Lippen.
Als der letzte Feuerwerkskörper verglimmt und sich die Masse der Schaulustigen langsam in alle Himmelsrichtungen auflöst, schlendern auch Mary und ich zurück durch die schmalen Straßen bis zu dem Hintereingang des Hauses, in dem ich wohne.
»Hast du eigentlich gute Vorsätze für dieses Jahr?«
Mit zurückgelehntem Kopf sieht Mary zu mir empor und macht mir damit wieder einmal bewusst, wie klein sie eigentlich ist. Gegen sie bin ich fast schon ein Riese. Meine Hand wirkt wie eine Pranke, in der ihre zierlichen Finger zerbrechlich – fast wie die eines Kindes – liegen. Es ist ein eigenartiges Gefühl, ihre Hand zu halten. Ob es richtig ist oder nicht? Ich weiß es nicht.
Vermutlich denke ich einfach zu viel.
Einen Moment lang hadere ich mit mir, ob ich Mary wirklich von meinen Plänen erzählen soll, denn ...
»Ja, in diesem Jahr gibt es tatsächlich etwas, was ich mir vorgenommen habe.« Die Worte fließen mir unerwartet leicht von den Lippen. Sie hat die Wahrheit verdient. Ihr und ihrer Liebe zumindest eine Chance zu geben, ist ein weiterer meiner Vorsätze. Mary war seit Weihnachten täglich bei mir und hat mich erfolgreich davon abgehalten, zu tief in meinen Gedanken zu versinken. Fühle ich mich schuldig? Vielleicht. Bin ich dabei, mich zu verlieben? Vielleicht. Wirklich, ich sollte weniger grübeln.
Mary erwidert nichts, doch ihr unnachgiebiger Blick macht mir klar, dass sie ihre Frage nicht ausreichend beantwortet sieht. Ich lache auf und nicke ihr dann zu. »Ist gut. Oben erzähle ich es dir.«
Als ich wenig später ihren Mantel entgegengenommen und uns ein Glas Sekt eingeschenkt habe, geselle ich mich zu Mary auf die Couch in dem großen, viel zu kahlen Raum, den ich schmeichlerisch als mein Wohnzimmer bezeichne. Noch immer schaut sie mich an. Erwartungsvoll – ein Muster der Beharrlichkeit.
»Und? Guter Vorsatz?«, erinnert sie mich.
»Deiner ist nicht zufällig, dich in Geduld zu üben?«, frage ich grinsend.
»Nein! Also?« Mary ist wie ein Pitbull; sie lässt nicht locker.
Ungeduldig streift sie die Schuhe ab und zieht ihre Füße auf die Sitzfläche. Ich hole tief Luft. Also gut.
»Kennst du noch Mr Kent, meinen Patienten?«, beginne ich zaghaft. »Ein netter Mann. Mitte fünfzig, schätze ich. Blond, Brille, immer freundlich ...«
»Oh, ja, ich erinnere mich. Er kam in die Praxis nach einem fiesen Hexenschuss, nicht wahr? Hat er nicht diese behinderte Tochter? Was hatte sie doch gleich?« Mary grübelt erfolglos, ihre blauen Augen werden schmal.
Bei dem Begriff
behindert
zieht sich etwas in mir zusammen. Niemals habe ich Julie als eine Behinderte gesehen. Dennoch nicke ich schnell. »Ja, genau. Julie. Sie ist Autistin. Sie scheint in einer eigenen Welt zu leben und bekommt vermutlich nicht viel von ihrer eigentlichen Umgebung und ihren Mitmenschen mit. Den ganzen Tag sitzt sie auf dem Fußboden und wippt hin und her. Sie summt diese kleine Melodie und ...«
Zu sehr in meine Erzählung vertieft, bemerke ich zunächst nicht, dass sich Marys Gesichtsausdruck wandelt. Erstaunt sieht sie mich an, nun wieder mit den weit geöffneten Augen, die so markant für sie sind.
»Woher weißt du das alles?«, unterbricht sie mich.
»Weil ich der Familie schon seit einiger Zeit helfe«, erkläre ich. »Mr Kent hatte vor einem Monat einen Bandscheibenvorfall. Er trägt Julie normalerweise von einer Etage zur anderen, aber momentan ist er nicht in der Verfassung dazu. Die Kents leben sehr abgeschottet, ohne jede Hilfe, deshalb wollte ich ihnen etwas unter die Arme greifen, bis es Tom wieder besser geht.«
Mary stellt ihr geleertes Sektglas auf dem kleinen Tisch ab und greift nach meiner Hand. Ihr Blick verlässt mich dabei nicht für einen Moment. »Gott, ich weiß schon genau, warum ich dich so sehr liebe«, flüstert sie und küsst meinen Handrücken.
Beschämt senke ich meinen Blick. Ich werde wohl nie lernen, geschickt mit Komplimenten umzugehen. Wie immer, wenn Mary mir ihre Liebe gesteht, fühle ich mich nicht so richtig wohl in meiner Haut.
»Jedenfalls ist mein Vorsatz für dieses Jahr ...« Ich zögere, als mir bewusst wird, wie verrückt sich mein Vorhaben für Mary anhören muss.
Egal, spuck’s aus!, fordere ich mich auf.
»Ich werde versuchen, Julie aus ihrer Welt zu befreien. Sie steckt da ... irgendwie fest.«
»Was?«, fragt sie mit einem leisen, trockenen Auflachen. »Aber das haben doch sicher schon andere vor dir versucht, nicht wahr? Du
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