Deine Seele in mir /
auch ich würde mich gerne verstecken.
In mir wächst das Bedürfnis, diese bedrückende Stimmung, die dem Raum seine Luft zu rauben scheint, möglichst schnell zu überwinden.
Langsam beuge ich mich zu Mary vor, nehme das Album von ihrem Schoß und lege es auf dem Tisch ab, bevor sie weiterblättert. Mary streichelt meine Wange, ich küsse ihre Hand.
»Mary, ich weiß nicht, wann ich in der Lage sein werde, mit dir ... intimer zu werden, aber ...«
»Schsch!« Sie schüttelt den Kopf und streicht mir durch die Haare; behutsam zeichnet sie die dünne Linie an meiner Schläfe nach. Ihre Finger zittern. »Diese Narbe. Ich habe mich immer gefragt, was passiert ist«, haucht sie.
Es tut mir weh, Mary so zu sehen. Sie ist eine dieser Personen, die sich für andere aufopfern. Doch jetzt ist es an der Zeit, dass sich mal jemand um sie kümmert.
»Wenn du mich lässt«, flüstere ich ihr ins Ohr, »... dann würde ich dich sehr gerne massieren, Mary.«
Es ist die Wahrheit, ist das, was ich am besten kann, und ihr postwendendes Nicken erfreut mich sehr.
Minuten später ist es so weit. Warmes Öl auf ihrer Haut. Die Wahl des Duftes ist auf eine Mischung aus Vanille und Rose gefallen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, ohne sie zu fragen, denn es besteht kein Zweifel daran, dass dies ihre Düfte sind. Meine Hände streichen über ihren Rücken. Ich schließe meine Augen. Geschmeidig gleiten meine Fingerspitzen an ihren Seiten hinab, sanft, in kreisenden Bewegungen. Immer weiter, immer weiter, bis die Berührungen meiner Hände in den Hintergrund rücken und sich alles nur noch um Mary selbst dreht. Ihr Duft, ihre Haut, ihre Haare, ihre Hände, ihre Geschichte.
Ich brauche ihre persönliche Geschichte. Als die tanzenden Farben vor meinen geschlossenen Augen verschwimmen und sich langsam umformieren, um neue Konturen zu bilden, weiß ich, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Also lasse ich mich fallen und übergebe mich meinem sechsten Sinn.
... Da ... Mary! Sie ist noch ein junges Mädchen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Sie steht auf einem Schulhof. Eine Brille mit starken Gläsern lässt ihre Augen noch größer wirken. Das Metall einer festen Zahnspange blitzt in ihrem Mund auf, als sie in einen Apfel beißt. Eine Freundin hat sich bei ihr untergehakt. Sie lachen.
Doch dann kommt ein Junge. Er steuert geradewegs auf Mary zu. Ohne die geringste Veranlassung zieht er an ihren Zöpfen und lacht sie aus. »Hässliche Kuh!«, ruft er und bewirft sie mit Schlamm. Mary jedoch fühlt Zuneigung für diesen Jungen, der sie vor ihrer Freundin und all seinen Freunden hänselt und ärgert. Immer wieder boxt er ihr gegen den Oberarm, bis sie die Beherrschung verliert und zu weinen beginnt. Ihr ganzer Körper ist verkrampft. Da ... an ihrer linken Schulter ... ja, das ist der Punkt. Und da ... das ist der andere.
Es ist immer die Seele, die uns schmerzt, und sie sucht sich Partien unseres Körpers, um sich mitzuteilen. Mit mäßigem Druck auf Marys rechte Lende und etwas stärkerem auf ihre linke Schulterpartie massiere ich sie.
»Hör nicht auf ihn, Mary! Du bist wunderschön. Du bist wirklich sehr schön.« Unsichtbar stehe ich auf dem Schulhof, direkt neben dem weinenden Mädchen, und wispere ihr immer wieder diese Worte zu. Lautlos. Unbemerkt. Heilend.
Sie begleiten meine Massage. So lange, bis das Bild des Jungen zunächst verblasst und sich schließlich auflöst. Die kleine Mary lacht nun wieder. Breit und ungehemmt. Das Blau ihrer Augen funkelt hinter den Gläsern ihrer Brille. Dann wendet sie sich ab und hüpft davon.
»Gott, Matt«, haucht die erwachsene Mary in diesem Moment und zieht mich damit zurück in die Realität. »Woher nimmst du das bloß?«
Als ich meine Augen öffne und die Hände von ihr löse, dreht sie sich unter mir auf den Rücken.
»Wie hieß der Junge?«, frage ich sie ohne Umschweife.
»Welcher Junge?«, erwidert sie verklärt.
»Der kleine Fiesling mit der schwarz-gelben Jacke und den hellblonden Haaren, der dich immer wieder aufgezogen hat, als du noch ein Schulmädchen warst. Der Junge, den du trotz all seiner Hänseleien heimlich bewundert und geliebt hast?«
Der Schleier vor ihrem Blick liftet sich, nun ist sie vollends da. »Jeremy McDonald.« Ihre Stimme ist monoton, die Lippen bewegen sich kaum. Ich schaue auf ihre Schulter, doch sie zuckt nicht mal.
»Schmerzt dich die Erinnerung an ihn noch so sehr?«, frage ich beiläufig, während ich mit meinen Fingerspitzen
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