Deine Seele in mir /
bist doch kein Psychologe – oder welche Art von Arzt man für solche Fälle braucht. Das verstehe ich nicht, Matt.« Mary schüttelt den Kopf.
»Das kannst du auch nicht!«, sage ich bestimmt.
Doch was als beruhigende Bestätigung gedacht war, kommt bei Mary völlig anders an. Ihre Stirn legt sich in Falten. Sie zieht ihre Hand zurück und schürzt pikiert die Lippen. »Dann erkläre es mir!«, fordert sie.
»Warte, ich versuche es.«
Marys Haltung entspannt sich wieder.
Die Konzentration steht in ihren Augen, als sie meiner Erzählung folgt. Ich beschreibe ihr alles, was bisher passiert ist.
Nicht
ein
Detail lasse ich aus.
Ursprünglich hatte ich vorgehabt, ihr lediglich zu erzählen, dass Julie mich nach der ersten Massage mit meinem Namen angesprochen hatte. Doch irgendwie tut es so gut, endlich mit jemandem zu sprechen, dass ich nicht aufhören kann.
Die Worte fließen nur so von meinen Lippen. Erstaunt höre ich mich reden und reden und reden. Mary ist die erste Person, der ich von meinen Visionen erzähle und von dem ersten Mal, als Julie mir so fest in die Augen sah. Schließlich berichte ich sogar von dem Bild, das sie gemalt hat, und davon, wie sehr mich ihr Motiv erschreckt hatte. Zu spät bemerke ich, dass es nun kein Zurück mehr gibt. Plötzlich wird mir meine zügellose Offenheit bewusst. Wie auf ein Signal hin klappt mein Mund mitten im Satz zu.
»Was hat Julie denn gemalt, dass du so einen Schreck bekommt hast?«, fragt Mary nach wenigen Sekunden in die Stille, die ich nutze, um mich auf das Unausweichliche vorzubereiten. Mary schaut mir nach, als ich mich erhebe und in meinem Schlafzimmer verschwinde. Erneut hole ich mein Album aus dem alten Pappkarton und lege es in ihre Hände. Und ebenso wie Kristin nur wenige Tage zuvor, blättert nun auch Mary durch meine unbeschwerten Kindheitserlebnisse, bis sie auf den Artikel stößt, der das Verbrechen an Amy und mir beschreibt.
Als Mary die Zusammenhänge begriffen hat, gleicht ihre Reaktion der von Kristin. Sie schlägt die Hände vor dem Mund zusammen und beginnt zu weinen.
»Oh, Matt, es ... es tut mir so leid! Das ... das wusste ich nicht«, stammelt sie mit zittriger Stimme.
Intuitiv drücke ich ihre Hand. »Woher auch, Mary? Ist schon okay. Das alles ... ist schon so lange her«, tröste ich sie. Dann tippe ich auf das Schwarzweißbild in der Zeitung. »Julie hat exakt diese Landschaft gemalt. Jedes Haus des Dorfes war detailgetreu abgebildet. Und ... sie hat Amy und mich gemalt.«
Fassungslos sieht Mary mich an. »Amy? Hieß dieses kleine Mädchen so? Und Julie hat euch beide gemalt? Aber woher wusste sie denn ...?«
»Keine Ahnung.« Ich zucke mit den Schultern. »Das ist es ja, was ich herausbekommen muss!«
Mary legt den Kopf schief und beißt nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Du willst sie weiter massieren, ja? So versuchst du, wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen, richtig?«
»Ja.« Ob sie mir wohl glaubt? »Mary?«, frage ich vorsichtig und unterbreche damit den unmessbaren Moment angespannter Stille. Sie scheint mich nicht zu hören.
»Jetzt wird mir so einiges klar«, flüstert sie schließlich.
Mary streichelt über die verkrusteten Wunden meiner Daumen. Ihre Tränen tropfen warm auf die Innenflächen meiner Hände herab.
»Das heißt, du glaubst mir?«, frage ich vorsichtig.
Empörung blitzt in ihren Augen auf, doch dann schmilzt sie, und ihr Blick wird nachsichtig. »Aber natürlich glaube ich dir, Matt. Was hätte ich auch für einen Grund, das nicht zu tun? Dass du bei deinen Massagen wahre Wunder vollbringst, berichten mir deine Patienten Tag für Tag. John und Megan gelten auch als gut, aber du ... Du bist die Koryphäe der Praxis, du hast sie erst groß gemacht. Die Patienten reißen sich förmlich um die Termine bei dir, und nun ahne ich auch, warum.«
Noch eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander auf der Couch. Mary wirkt eigenartigerweise keineswegs verstört auf mich. Ich spüre nur ihre tiefe Traurigkeit, sonst nichts. Immer wieder sieht sie mich mit diesem mitleidigen Blick an, dem ich kaum standhalten kann. Ignoranz kann ich ertragen, Anteilnahme nur schwer, Mitleid bringt mich um.
Ich hasse es, wenn sich Menschen meinetwegen schlecht fühlen, doch in Marys Augen spiegelt sich nun das Wissen um mein Leid wider und trübt das schöne, sonst so klare Blau – lässt es ermatten. Plötzlich verstehe ich sehr gut, dass sich Kristin und Tom mit Julie so von der Außenwelt abgeschottet haben, denn
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