Deine Seele in mir /
sah, sprach sie weiter – als wolle sie sich vergewissern, dass ich ihre Erklärung auch richtig aufnahm und nicht etwas Falsches in ihr Verhalten hineininterpretierte.
»Ich komme mir so deplaziert vor. Die Situation ist verwirrend genug. Es gibt so viel, was du mit Kristin und Tom besprechen musst. Ich möchte auf keinen Fall, dass sie sich in irgendeiner Form eingeschränkt fühlen, weil sie mich noch nicht so gut kennen. Verstehst du das?«
Ja, das verstand ich sehr gut.
Und ehrlich gesagt bin ich nun, da die unausweichliche Diskussion immer näher rückt, sogar ein bisschen erleichtert über Marys Entscheidung. Ich mag sie wirklich sehr, doch momentan bin ich nur froh, mit Tom und Kristin allein zu sein.
Tom fährt mit ausgestrecktem Zeigefinger auf dem Rand seines Teeglases entlang, als wolle er ihm einen Ton entlocken. Sein gedankenverlorener Blick geht ins Leere. Permanent brummelt er vor sich hin, doch nicht ein einziger deutlicher Satz kommt über seine Lippen. Nur einige Wortfetzen finden ihren Weg zu meinem Ohr. »... ist alles ... so unwirklich ... das bloß glauben? ... Ehrlich gesagt ... keine Ahnung ... davon halten ...«
Kristin nickt und greift liebevoll nach der Hand ihres Mannes.
»Ja«, sagt sie beruhigend, als hätte sie jedes Wort verstanden – was absolut unmöglich ist. »Ich weiß, mein Schatz. Aber wir haben doch beide von Anfang an gesehen, dass Matt und Ju..., dass die beiden eine besondere Beziehung zueinander haben.«
»Du willst sie wirklich nicht mehr bei dem Namen nennen, den wir ihr gegeben haben?«, fragt Tom entsetzt. Er kämpft mit seiner Stimme und mit den Tränen, die bereits in seinen Augenwinkeln glitzern.
»Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet, Kristin?« Er zögert, jedoch nur kurz. Dann bricht alles ungehemmt aus ihm heraus. »Wenn das wirklich wahr ist, was Matt und scheinbar auch du ... was ihr beide glaubt, dann haben wir gar keine Tochter. Dann haben wir nie eine gehabt. Alles, was wir dann haben, ist der Körper unserer Tochter, gefüllt mit einer fremden Seele – mit dem Geist eines anderen Mädchens. Ist es wirklich das, was du glaubst, Kristin?
Kannst
du das denn glauben?«
Kristin zieht so ruckartig ihre Hand weg, als habe sie sich an der Haut ihres Mannes verbrannt. Toms Worte scheinen sie hart getroffen und erschreckt zu haben. Sie blickt auf den Boden und beginnt wieder, still vor sich hin zu weinen.
»Ich weiß es doch auch nicht«, erwidert sie schließlich. In ihrer bebenden Stimme schwingt all ihr Unglück mit. »Ich weiß gar nichts mehr. Warum ist unser Kind überhaupt so, warum konnten die Ärzte uns nicht helfen, warum hat sie diese Verbindung zu Matt, warum ist sie an dem Tag geboren und wahrscheinlich sogar zur selben Stunde, als dieses kleine Mädchen starb, warum darf Matt sich über sie beugen und sie festhalten, ohne dass sie sofort brüllt? Warum dürfen wir das nicht? Es sind so viele unbeantwortete Fragen, dass ich gar nichts mehr weiß, Tom! ... Ich möchte schreien und nur wegrennen, aber es gibt keinen gottverdammten Ort auf der ganzen Welt, an dem ich frei wäre. Frei von all diesen Gedanken. Also, was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Sie schneuzt sich die Nase, Tom stützt das Gesicht in seine Hände, und ich komme mir plötzlich völlig fehl am Platz vor. Deplaziert, so hatte Mary es genannt. Die beiden scheinen überhaupt keine Notiz mehr von mir zu nehmen. Sie befinden sich – miteinander und jeder für sich – in einem tiefen inneren Konflikt und spüren wohl genau, dass es an der Zeit ist, eine Entscheidung zu fällen.
»Ich weiß nur eins«, sagt Kristin auf einmal mit fester Stimme und blickt ihrem Mann dabei in die Augen. »Spätestens nach diesem Erlebnis heute kann ich nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nicht, ohne endlich Klarheit zu erlangen. Wir sind an einem Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Wir lieben dieses Mädchen doch, und darum stimmt das, was du sagst, auch nicht, Tom. Sie wird immer unsere Tochter bleiben. Egal, wie sie nun heißt und wer sie meint zu sein – sie ist und bleibt doch unsere kleine Tochter. Mir ist durchaus bewusst, dass harte Zeiten auf uns zukommen könnten und dass wir vielleicht Dinge erfahren, die uns nicht gefallen werden. Aber Tom, was ist denn die Alternative? Und wenn du eine siehst, dann sag mir: Ist sie weniger schmerzhaft und schwierig? Ich kann nicht anders, als weiterhin an das Wohl unserer Tochter zu denken. Was ist das Beste für sie?
Wenn ihre
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