Deine Seele in mir /
Seele wirklich gefangen ist, und wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht sie zu befreien, dann müssen wir das doch versuchen. Oder nicht? ... Tom?«
Er schweigt. Die Minuten vergehen schleppend, ohne ein einziges Wort von ihm. Das Ticken der kleinen Kaminuhr schallt überlaut in dem großen Raum.
Endlich atmet Tom tief durch. Wie auf ein Kommando sehen Kristin und ich zu ihm auf. Ohne Umschweife schaut er mir in die Augen. »Also, was schlägst du vor, Wunderheiler? Willst du sie noch mal auf deine ... bestimmte Art massieren und dabei versuchen ... Kontakt zu ihr aufzunehmen?«
Der deutliche Unterton in seiner Stimme bleibt mir nicht verborgen, doch ich gehe nicht darauf ein und nicke nur.
»Kannst du in diesem ... Zustand ... denn mit ihr sprechen?«
Tom sieht mich prüfend an, und schon befinde ich mich in Erklärungsnot. »Ich weiß es nicht! Mit den Menschen in meinen Visionen habe ich mich noch nie zuvor richtig unterhalten. Es gibt zwar immer eine Art von ... sagen wir, mentalem Austausch zwischen uns, aber so wie bei Amy ... Sie hat meine Anwesenheit bemerkt und mich sogar direkt angesprochen. So etwas habe ich zuvor noch nicht erlebt.«
Als ich den fremden Namen für ihre Tochter gebrauche, kann ich förmlich spüren, wie sich Tom und auch Kristin innerlich verkrampfen. Sie nicken, doch ich fühle, dass ihr Verständnis nur vorgetäuscht ist. Visionen, mentaler Austausch ... das ist extrem schwere Kost, ich weiß.
»Tom«, setze ich vorsichtig an. »Ich habe auch dich massiert, mehr als nur einmal, und ... ich weiß sehr viel von dir. Wenn ich darf ...« Mein Blick wandert von ihm zu Kristin und wieder zurück zu ihm.
Er nickt.
Ich schließe die Augen und versuche, mich möglichst genau zu erinnern.
»Du warst noch ein kleiner Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ihr habt in einer Scheune Ritter gespielt; die Heugabeln und Besen waren eure Waffen. Außer dir waren noch ein etwas jüngeres Mädchen mit braunen langen Zöpfen dabei und dieser kleine Junge, der über deine Mistgabel stolperte, gegen den großen Anhänger fiel und sich die Platzwunde an seinem Kopf zuzog. Das war dein kleiner Bruder, nehme ich an. Er sah dir jedenfalls sehr ähnlich, hatte aber dunkleres Haar als du.
Du hast nie zugegeben, dass du ihm den Stiel absichtlich zwischen die Beine geschoben hast, nicht wahr? Und er war zu klein, um zu erzählen, was wirklich geschehen war.
Es ist okay! Ihr wart spielende Kinder. Du warst dir der Folgen nicht bewusst, und als Ältester hattest du große Angst vor der drohenden Strafe.«
Tom sieht nicht zu mir auf, doch noch während ich spreche, beschleunigt sich sein Atem.
Bei meinen letzten Worten springt er auf und verlässt den Raum. Er flüchtet in die Küche.
Für Kristin ist dieses Verhalten ihres Mannes Bestätigung genug. Neue Tränen glitzern in ihren Augen. Sie greift nach meiner Hand und drückt sie. Wir bleiben schweigend an dem großen Tisch zurück, bis Tom erneut im Türrahmen erscheint.
»Was können wir tun, Matt? Was können wir tun, um ... Amy zu uns zu holen?«, fragt er entschlossen.
Ohne ein Wort stehe ich auf und verlasse das Haus, um den großen Karton aus meinem Auto zu holen. Nachdem ich Mary nach Hause gebracht hatte, war mir die Idee gekommen. Wieder ist es der Karton, den ich für so viele Jahre verschlossen unter meinem Bett aufbewahrt hatte, doch mein blaues Fotoalbum hatte ich dieses Mal vorsorglich entnommen. Als ich die Laschen aufklappe und den Inhalt nach und nach auf dem großen Esstisch verteile, verstehen Kristin und Tom sehr schnell, was ich ihnen zeige.
»Ist sie das?«, fragt Tom und deutet auf ein gerahmtes Bild. Es zeigt Amy auf ihrer Schaukel. Ihre langen blonden Haare trägt sie, wie eigentlich immer, zu Zöpfen geflochten, und sie strahlt breit über das ganze Gesicht. Sie muss etwa sechs Jahre alt gewesen sein, als dieses Foto entstand, denn sie hat noch die breite Zahnlücke, wie bei unserer Einschulung.
»Ja. Dieses Bild stand lange auf meinem Nachttisch«, gestehe ich.
Kristin lächelt. »Klingt nach einer Sandkastenliebe.« Ihr Ton ist liebevoll. Mit dem Ärmel ihrer Bluse streicht sie sorgfältig den Staub von dem Bild.
Ein wenig verlegen senke ich meinen Blick. Nicht eine Sandkastenliebe, denke ich,
die
Sandkastenliebe. Zunächst noch zögernd, dann immer mutiger arbeiten sich Toms und Kristins Blicke nach und nach über alles, was ich vor uns ausgebreitet habe. Dort liegen Briefe, die Amy mir geschrieben hatte,
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