Deine Seele in mir /
um mindestens anderthalb Köpfe, und in diesem Augenblick frage ich mich, wie groß sie wohl wirklich geworden wäre – in ihrem alten Körper.
»Das ist komisch«, stellt auch Amy nüchtern fest und zögert nicht lange, ihr Statement weiter zu erklären. »Eine kurze Zeit lang war es genug, mir vorzustellen, dass es dir gutginge und dass alles wieder genauso werden könnte wie zuvor, wenn ich nur zurückfände. Es dauerte nicht lange, da wurde mir klar, dass diese Vorstellung zwar schön, aber leider völlig unrealistisch war. Also strengte ich mich an und versuchte, mir genau vorzustellen, was wirklich mit dir geschehen sein konnte. Ich ging verschiedene Szenarien durch, und mit einem Mal wusste ich, dass ich dich gefunden hatte. Ich sah dich auf einem fremden Schulhof stehen. Du warst allein.
Immer wieder hast du deinen kleinen blauen Ball gegen einen Baumstamm geworfen und ihn aufgefangen, als er daran abprallte. Die anderen Kinder alberten herum und spielten fröhlich, doch du warst einsam. Dieses Bild brachte mich zum Weinen, weil ich spürte, dass es real war. Es zeigte mir, wo du in diesem Moment warst und wie es dir ging. Ich versuchte, in der Zeit zurückzugehen, und es gelang mir auch wirklich. Das war ...«
Einen Moment lang sucht sie nach den richtigen Worten; ich warte gebannt.
»... wie in einem Film. Ich konnte beliebig zurückspulen, bis zu diesem schlimmen Tag ... Und da warst du, direkt neben mir. Noch immer gefesselt, mit dem Knebel in deinem Mund, halb ohnmächtig an diesem Baum. Bis man uns schließlich fand. Du hattest eine Menge Blut verloren, die rechte Seite deines T-Shirts war blutgetränkt. Keiner hatte sich Sorgen um uns gemacht, weil wir doch immer so lange am Bach geblieben waren. Ich sah, wie unsere Väter vor uns erstarrten, als sie uns fanden. Sekundenlang standen sie wie festgefroren da. Mein Vater taumelte und brach über mir zusammen, und auch dein Dad musste sich abstützen, bevor er überhaupt in der Lage war, deine Fesseln endlich zu durchtrennen. Ich sah, wie unsere Mütter zusammensackten, als man uns nach Hause trug. Es war hart für mich, all das zu sehen, aber ich wusste ... ich
spürte,
dass es genauso geschehen war – geschehen sein
musste
...« In ihre Erinnerungen vertieft, schüttelt Amy betrübt den Kopf.
Der vertraute, dicke Kloß in meinem Hals ist wieder da; ich schlucke schwer daran – wie immer vergeblich.
»Vier Nächte lang hast du mit dem Tod gekämpft. Deine Eltern saßen neben deinem Bett und beteten die ganze Zeit für dich. Dem Priester, den man bereits gerufen hatte, verweigerte dein Vater einfach den Zutritt. Gott, ich habe ihn geliebt dafür. Er wollte nichts davon hören, dass auch du eventuell sterben könntest. Und er hatte recht. Als du endlich erwacht bist, hast du lange Zeit nicht gesprochen, danach nur das Nötigste. Deine Eltern waren bereits umgezogen, als man dich aus dem Krankenhaus entließ. Sie wollten nicht, dass du dich ständig erinnern musst. Sie wollten nicht, dass alle, denen du begegnest, von deiner Geschichte wissen. Und so verließen sie Saint Toulouse und brachten dich weit weg. Doch ich war die ganze Zeit über bei dir, Matty. Bei jedem deiner Schritte habe ich dich begleitet.« Vertrauensvoll schmiegt Amy den Kopf an meine Brust. Ihre Worte sind so sicher und fließend – als würde sie sie ablesen. Wie oft hat sie mir das alles wohl schon erklärt? Wie lange hat sie wohl auf genau diesen Moment gewartet? Eine tiefe Wärme steigt in mir empor, und während sie weiter zu unserem Spiegelbild spricht, legen sich meine Arme wie von selbst um ihre Taille.
»Ich beobachtete, wie du älter wurdest, und war mir bewusst darüber, dass auch ich heranwuchs. Manchmal war es mir, als würdest du nach mir rufen. Ich sprach mit dir, aber du hast mich nie gehört. Wenn du besonders traurig warst, spielte ich Klavier für dich, um dich zu trösten. Dein Lieblingsstück. Aber immer ... wirklich immer, Matty«, ... ein schmerzliches Schmunzeln ergreift nun ihre Lippen, »... sah ich mich selbst so, wie ich mich kannte. Mit meinen langen, blonden Haaren, den Sommersprossen und den blauen Augen. Ich erschrak, als ich feststellte, dass dieses reglose Geschöpf, mit dem du dich in den letzten Wochen abgemüht hast, wirklich
ich
war. Erst da begriff ich, was wirklich mit mir geschehen war. Dieses Mädchen ...«, zögernd streckt sie den Zeigefinger aus und deutet mit einem argwöhnischen Blick auf ihr Spiegelbild, »... diese junge Frau
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