Deine Seele in mir /
Wie schwer ihnen das fallen muss. Dennoch versuchen sie tapfer, es sich nicht anmerken zu lassen. Amy erhebt sich langsam. »Gute Nacht!«, sagt sie sehr höflich und wendet sich dann, wie selbstverständlich, der Treppe zu, über deren Stufen man sie seit dem Einzug in dieses Haus hatte tragen müssen. »Gute Nacht, Süße«, kommt es einstimmig zurück. Tom wirft seiner Frau einen glücklichen Blick zu und legt den Arm um sie, als sich Kristin an ihn schmiegt.
Bleib bei ihr, formen seine Lippen tonlos.
Ich nicke ihnen zu und steige dann dicht hinter Amy die Treppe hoch.
Sie geht geradewegs in ihr Zimmer. Mit staunenden Augen, die mich an die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum erinnern, sieht sie sich um. »Die neuen Farben sind schön. Das war deine Idee, nicht wahr, Matty?«, fragt sie.
Ich nicke, noch immer geschockt – fast wie betäubt. Es ist eigenartig. Ich hätte erwartet, dass sie vielleicht sehr holprig sprechen würde oder schwach klänge – oder dass einfach irgendetwas an ihr auf die bisherige geistige Abwesenheit hindeuten würde. Doch nichts dergleichen ist der Fall. Es ist so, als hätte man nach all den Jahren endlich den richtigen Schalter gefunden, ihn umgelegt, und – siehe da – plötzlich läuft Amy auf Hochtouren.
Sie steht mitten in ihrem Zimmer und sieht sich so neugierig um wie jemand, der nach sehr, sehr langer Zeit wieder nach Hause zurückgekehrt ist. Dabei wirkt sie zufrieden, nahezu glücklich. Eine bizarre Situation, in der
ich
es plötzlich bin, der sich befangen und etwas unsicher fühlt.
»Danke, ich mochte das Rosa nicht«, gesteht Amy mit einem Lächeln. Im Stillen wundere ich mich darüber, wie viel sie offensichtlich doch mitbekommen hat, wie erwachsen sie wirkt. Ich schaffe es nur schwerlich, mich so weit aus meiner Starre zu befreien, dass ich ihr Lächeln einigermaßen überzeugend erwidern kann.
Amys Expedition durch ihr Zimmer geht weiter. Als sie das gerahmte Foto entdeckt, welches sie in ihrem ehemaligen Mädchenkörper auf der alten Schaukel zeigt, lässt sie ihre Fingerspitzen darübergleiten. »All diese Erinnerungen«, flüstert sie. Dann fällt ihr Blick auf ein verschlissenes Plüschtier, ihren heiß geliebten Hasen. Sofort schließt sie ihn in die Arme und drückt ihn fest an sich. »Benny! Es ist so schön, dass du ihn noch hast.«
»Ja. Du hast ihn an diesem Morgen bei uns gelassen, erinnerst du dich? Und danach ... ist er sehr schnell in einem der vielen Umzugskartons gelandet, als wir ...«
»Ich weiß das alles«, unterbricht sie mich. Ihre Stimme ist nicht mehr als ein sanftes Hauchen. Sie wirft mir einen Blick zu, dessen Klarheit mir durch und durch geht. Wie sehr habe ich mich in den vergangenen Wochen nach einem solchen Blick gesehnt.
»Ich war doch bei dir.«
Die Sekunden verstreichen.
Ich warte darauf, dass sie etwas Verständliches sagt, doch als keine weiteren klärenden Worte folgen, beschließe ich, es vorerst dabei zu belassen. Es wäre vollkommen unüberlegt und unverzeihlich überstürzt, Amy nun mit tausend Fragen zu bestürmen. Alles zu seiner Zeit, ermahne ich mich.
»Matty, ich möchte, dass du bei mir bleibst. Bitte, schlaf heute Nacht neben mir«, fordert sie plötzlich. »Ich fürchte mich davor einzuschlafen. Was ist, wenn ich morgen früh aufwache und feststelle, dass du mich nicht mehr wahrnimmst?«
Langsam gehe ich auf sie zu und widerstehe nur knapp dem starken Drang, sie fest in meine Arme zu schließen. Lediglich meine Fingerspitzen lasse ich über ihre Schultern gleiten. »Du bleibst hier, bei mir! Das hast du mir versprochen, Amy. Ich brauche dich«, flüstere ich ihr zu.
»Aber alles ist jetzt so ... anders«, wirft sie traurig ein und streckt ihre Hand aus, um meine Wange zu streicheln.
Ihre Berührung, so zart wie sie ist, jagt mir sofort eine Gänsehaut über den Körper. Mir wird ein wenig schwindlig, also schließe ich die Augen und schmiege mich für einen kurzen Moment an ihre Handfläche.
»Ja, das ist es. Aber sind wir denn anders, Amy? Abgesehen davon, dass wir nun erwachsen sind? Nein, sind wir nicht. Wir haben immer noch ... diesen besonderen Draht zueinander.« Meine Worte beschreiben die tatsächliche Intensität unserer Verbindung nicht einmal im Geringsten, doch etwas Treffenderes fällt mir momentan nicht ein.
Amy nickt, dann wendet sie sich ab. Als ich ihren Blick verfolge, sehe ich, dass sie uns in dem großen Spiegel an ihrer Zimmertür betrachtet. Sie ist sehr klein; ich überrage sie
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