Deine Seele in mir /
Ton bewusst locker ist – das Thema selbst verschnürt mir die Kehle.
Amy entgeht das nicht.
»Hey!« Sie packt meine Handgelenke und zerrt so lange daran, bis ich nachgebe. »Was ist dir peinlich?«, fragt sie mich mit einem bezaubernden Blick durch ihre langen, halb niedergeschlagenen Wimpern. »Dass du noch nicht so viele Frauen hattest?«
Schon wieder entgleist mir meine Kinnlade. Was für ein entwürdigendes Körperteil, wenn es außer Kontrolle gerät. Aber wirklich – Amys Offenheit hat etwas Brutales an sich und verwirrt mich noch mehr als die Tatsache, dass sie all diese Dinge weiß.
Amy schmunzelt und stößt dabei ein wenig Luft aus. Ihr Atem streift mein Zäpfchen; ich schließe den Mund.
»Nicht so viele? Das ist die Untertreibung schlechthin, Amy.«
»Na ja, Freundinnen hattest du ja schon, aber es ist halt nie zu ...«
Nur indem ich meinen Zeigefinger über ihre Lippen lege, bremse ich sie in letzter Sekunde noch aus. »Amy! Stopp! Ich weiß, was passiert ist ... oder eben
nicht
passiert ist. Ich war dabei. Abgesehen davon erkenne ich, was du hier gerade versuchst. Und es funktioniert nicht. Ich kann nicht locker darüber sprechen.«
Ich kann überhaupt nicht darüber sprechen.
Für eine Sekunde verharrt Amy still, doch im nächsten Augenblick setzt sie sich auf, und ihr Blick wandelt sich. »Gut, reden wir ernsthaft.«
Oh nein, bitte nicht.
»Matty, wenn diese Frauen, so wie Mary jetzt, gewusst hätten, was du durchgemacht hast, dann wären sie viel geduldiger gewesen. Dann hätten sie die Schuld nicht bei sich selbst gesucht und wären nicht davon ausgegangen, dir nicht attraktiv genug zu sein.
Deine Zurückweisung wäre nicht als Arroganz gewertet worden. Du hättest dich einfach mal öffnen sollen, anstatt wieder und wieder einen Schlussstrich zu ziehen, sobald es unbequem wurde.«
Ich senke meinen Kopf. Ihr tadelnder Blick ist dennoch spürbar. »Gerade du müsstest doch wissen, welch enorme Bedeutung das Unterbewusstsein eines Menschen hat und wie wichtig es darum ist, alte Wunden richtig verheilen zu lassen. Man darf sie nicht nur notdürftig abdecken und verleugnen. Das funktioniert nicht.«
Ja, da hat sie wohl recht. Gerade ich, der immer so darauf besteht, bei seinen Patienten den Ursprung und nicht nur die Symptome ihrer Leiden anzugehen, sollte es eigentlich besser wissen. Verdrängung ist kein Weg, sondern eine Sackgasse.
»Was ist eigentlich mit uns geschehen?«, grübelt Amy.
»Hm?«, frage ich und riskiere einen vorsichtigen Blick. Ihre Stirn liegt in tiefen Falten.
»Na, ich weiß zwar nicht, weshalb das so ist, aber seit diesem schrecklichen Tag haben wir doch beide eine ähnliche Gabe entwickelt. Obwohl deine wesentlich umfangreicher ist. Wenn du deine Patienten massierst, erzählen sie dir ihre Geschichten. Ich habe dich unzählige Male in deiner Trance – oder was es ist – beobachtet und weiß aus eigener Erfahrung, wozu du fähig bist.« Sie ergreift meine Hand und drückt sie. »Du heilst die Menschen von innen heraus. Ich hingegen muss dich zwar nicht berühren, um zu sehen, was du gerade tust, aber ich sehe eben ausschließlich dich – und die Menschen, die dich umgeben.« Sekundenlang grübelt sie stumm vor sich hin. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Aber ich kann nicht so tief blicken wie du. Ich sehe dich so, als stünde ich unsichtbar neben dir.«
»Bist du dir da sicher?«, frage ich endlich. »Du kannst wirklich nur mich sehen, sonst niemanden?«
»Ja, da bin ich mir absolut sicher.« Amy nickt mit Nachdruck. »So bin ich aufgewachsen, neben dir. Wir teilen dieselben Erlebnisse, du hast meine Anwesenheit nur nie bemerkt. Ich hatte die Wahl, deine Wege zu begleiten oder mich diesem fremden Leben hier zu stellen. Ich habe mich für dich entschieden.«
Ihr Geständnis trifft mich mitten ins Herz. Sie lächelt. »Dennoch habe ich sehr oft versucht, meine Eltern zu finden, aber ...« Sie schluckt. So schwer, dass ich es höre.
»Du konntest sie nicht sehen«, beende ich ihren Satz. »Das heißt, du weißt gar nicht, wie es überhaupt um sie steht.«
Mit großen, offenen Augen, in denen nun Tränen schimmern, sieht sie mich an und nickt. »Du weißt auch nichts, oder? Was sie machen und wie es ihnen geht?«
Es schmerzt, sie enttäuschen zu müssen. »Ich weiß gar nichts, tut mir leid, Amy. Deine Mom habe ich an diesem Morgen zum letzten Mal gesehen, deinen Vater am Abend zuvor. Unsere Väter haben uns gefunden, das stimmt, aber ich habe einen
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